Die Lage der Frau in der Gesellschaft
Die Lage der Frau in der Gesellschaft aus der Sicht einer Psychotherapeutin
Auszüge aus einem Interview, geführt von Dr. Irene Krawehl
in: Magazin „Madame“. Januar 1991
Krawehl: Vorurteile sind selten hilfreich. Im Falle von Frau Dr. Rosemarie Henzler erweisen sie sich schnell als besonders untauglich.
Praktizierende Psychotherapeutin und promovierte Literaturwissenschaftlerin, da glaubt man schon von vorneherein zu wissen, wie sie sein wird: eine jener disziplinierten Persönlichkeiten von wohltemperierter Gemütslage, stets verständnisvoll-ausgewogen und nie aus der Rolle fallend. Kurzum: ich erwartete eine Art lebendes Symbol für perfekte Lebensplanung ohne Reibungsverluste – und traf eine Frau voller Charme, Herzlichkeit und Fröhlichkeit. Die nichts von Perfektion hält und von Langzeitplanung auch nicht. Die mit größter Gelassenheit höchst provozierende Meinungen äußert. Etwa:
Henzler: Der Anspruch vieler Frauen, möglichst alle Rollen als Mutter, Geliebte, Hausfrau, Berufstätige perfekt gerecht zu werden, ist doch eine grenzenlose Anmaßung. Dieser übertriebene Wunsch nach Aufopferung ist oft nichts anderes als der Versuch, selbst schuldlos zu bleiben und den Mitmenschen unbewusst Schuldgefühle zu verursachen und sie dadurch zu beherrschen. Die Herrschaft des Menschen über die Natur korrespondiert mit der Selbstvergewaltigung seiner eigenen Natur.
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K: Warum haben Sie – Mutter zweier erwachsener Kinder – nach der Heirat ein Zweitstudium aufgenommen und sich als Psychotherapeutin niedergelassen? Wollten sie irgendetwas beweisen?
H: Du lieber Himmel, nein… Ab einem bestimmten Alter brauchen die Kinder einen doch auch nicht mehr ständig. Also habe ich getan, was ich schon immer tun wollte: Germanistik und Philosophie zu studieren und anschließend eine berufsbegleitende Ausbildung zur Psychotherapeutin daseinsanalytischer Richtung abzuschließen.
K: Sie haben es nicht beim Hobby belassen. Sind Sie der Meinung, dass jede Frau sich nur außerhalb der Familie in einem Beruf voll entfalten kann?
H: Wem sollte die Umkehr des alten Zwanges nützen? Als ob jeder Job notwendigerweise spannender und erfüllender ist als das Leben in der Familie. Dieser einseitige Druck der Medien, diese ständige Propagierung der Karrierefrauen! Das Dienen an der Maschine hat heute einen höheren Stellenwert als das Dienen am Menschen. Ist das nicht absurd? Jede Fließbandarbeit genießt ein höheres Ansehen als eine Familienmutter. Das ist unser materialistisches Weltbild, dass derjenige mehr gilt, dessen Wert sich in Lohnentgelt festlegen lässt!
K: Es wird sehr schnell deutlich im Gespräch mit Ihnen: von unumstößlichen Prinzipien halten Sie nicht viel.
H: Alle fünf bis sieben Jahre sollte jeder Mensch sein Leben, seine Grundsätze, sich selbst kritisch prüfen. Einen Weg stur zu verfolgen, nur weil man ihn vor Jahren einmal eingeschlagen hat, ist unsinnig. Manche merken viel zu spät, dass sich die äußeren oder inneren Voraussetzungen längst geändert haben.
K: Die spielerische Gelassenheit, mit der Sie scheinbar widersprüchliche Thesen vertreten, ist irritierend und faszinierend zugleich. In Ihren Publikationen kämpfen Sie zudem vehement gegen die Tendenz zur Gleichmacherei der Geschlechter.
H: Frauen bekommen nun mal die Kinder und haben eben eine andere biologische Natur und physiologische Konstitution. Davon abgesehen belegen wissenschaftliche Untersuchungen verschiedenster Richtungen, dass die Gehirne von Männern und Frauen unterschiedlich funktionieren. Wir wissen zum Beispiel, dass Männer und Frauen unterschiedlich Räumlich-visuelles und Akustisches wahrnehmen. Das kann sich doch auch in den Begabungen manifestieren. Also müsste man diese individuellen Unterschiede eher fördern und nutzen, statt sie zu leugnen. Natürlich soll daraus kein einseitiger Machtanspruch abgeleitet werden. Aber Nivellierungen töten doch schließlich auch die „kreative Erotik“, ich meine die fruchtbare Spannung zwischen den Geschlechtern, die Ansporn für die schöpferischen Fähigkeiten des Menschen sein kann.
K: Und wie setzen Sie nun Ihre theoretischen Erkenntnisse in die Praxis um? Was sagen Sie zum Beispiel einer Frau mittleren Alters, deren Kinder langsam aus dem Haus gehen? Der Ehemann befindet sich auf dem Höhepunkt seiner beruflichen Entwicklung, sie fühlt sich verlassen, ausgenutzt, beiseitegeschoben und reagiert mit Depressionen: Wie können Sie ihr helfen?
H: Ich versuche ihr erst einmal die Selbstanklagen zu nehmen. Das Gefühl, ein Leben lang alles falsch gemacht zu haben. Das ist es ja, was das Selbstwertgefühl der meisten herunterdrückt. Ihre äußere Situation hat sich geändert, also sollte sie neue Lebensweisen ausprobieren. Sie muss erkennen, dass es keinen Schritt zurück mehr gibt.
Gemeinsam gilt es herauszufinden, warum sie nie begonnen hat, irgend etwas anderes zu tun. Warum haben Familie, Kinder sie so in Anspruch genommen, dass sie nicht Zeit für eine andere Beschäftigung fand? Den meisten fehlt da einfach die Antriebskraft. Und dies ist der Augenblick, sich mit sich selbst auszusöhnen, entweder indem man eben diese Antriebsschwäche akzeptiert und damit leben lernt oder sich selbst noch einmal anstößt. Sie muss erkennen (und das gilt auch für den Mann), dass die verschiedenen Bereiche ihres Lebens zu unterschiedlicher Zeit jeweils anders gewichtet werden, aber dass alle zu ihrem Recht kommen wollen. Liegt der Schwerpunkt zunächst bei Ausbildung und/oder Beruf, sind die Ziele und Wertvorstellungen andere als in der Phase Ehe und Familie. Später sollte das, was ich „Öffentlichkeitsarbeit“ nennen möchte, Vorrang haben: die Hinwendung zur Gemeinschaft, in der wir leben. Da gibt es immer Raum für ein Mehr an Beziehungen. Und schließlich kommt die persönliche, spirituelle Entwicklung zu ihrem Recht, wie schon in der frühen Jugend, doch jetzt auf einer anderen Ebene.
Jeder sollte für sich die Möglichkeit für ein religiöses, politisches, soziales, wissenschaftliches, philosophisches oder künstlerisches Engagement prüfen. Nicht als Alibi, sondern weil wir ohne solche Sinnfindung äußerst arm und unfrei wären.
Psychotherapie, wie ich sie verstehe, besteht darin, gemeinsam zu schauen, wo die eigenen Grenzen liegen, wo freiwilliger Verzicht zu leisten ist. Das ist gerade dort schmerzlich, wo man sich ganz auf ein einziges Ziel – die Karriere oder die Familie – konzentriert hat und andere Chancen gar nicht wahrgenommen wurden. Doch erst durch die Erkenntnis der Grenzen wird der Blick frei für neue Möglichkeiten, für das Besondere der eigenen Persönlichkeit. Und damit auch das Bewusstsein für den nach eigenem Dafürhalten angemessenen Platz in der Gesellschaft.
K: Wie sieht die spezielle Art Ihrer Behandlung aus?
H: Ich versuche, meine Arbeit mit psychodynamisch-analytischen und verhaltenstherapeutischen Ansätzen zu kombinieren. Viele Menschen fürchten sich zunächst, dass sie vielleicht gezwungen werden – auf der berühmten Couch -, etwas auszusprechen, was man nicht sagen will. Dabei ist es nicht immer angebracht, in der Vergangenheit zu wühlen und schmerzliche Dinge anzusprechen, wenn man die Veränderung der als unerträglich empfundenen Lebenssituation vielleicht auch anders herbeiführen kann. Durch Wechsel in den äußeren Umständen oder durch Einstellungs- und Verhaltensänderung. Das eine führt dann oft das andere mit sich. Das ist von Fall zu Fall verschieden. Bei Partnertrennung oder Berufswechsel zum Beispiel. Da gibt es drei Möglichkeiten: Man ändert die äußeren Umstände radikal. Oder man findet sich ab, ändert die innere Einstellung zu den äußeren Bedingungen. Oder man versucht eine gewisse Zeit beides zu kombinieren. Also durch die Änderung der inneren Einstellung eventuell die äußere zu beeinflussen. Da gibt es genügend Ansatzpunkte in der Gegenwart für die gemeinsame Arbeit. Dabei kann es schon angebracht sein, durch Erinnerungen frühere Verhaltensmuster einmal zu überprüfen. Das kann auch die Beziehung zu den Eltern miteinschließen, natürlich. Aber das Problem liegt ja in der Gegenwart; da ist etwas, was nach Veränderung drängt. Was möchte ich für die Zukunft? Zu welchem Selbst- und Weltbild finde ich? Das gibt oft diese Unruhe, die ich kreativ nennen möchte.
K: Gibt es in solchen Krisensituationen und existentiellen Fragestellungen typische Unterschiede zwischen Männern und Frauen?
H: Ja, die Angst vor dem Verlassenwerden ist irgendwie phasenverschoben. Die jungen Frauen wollen alles so perfekt machen, wenn sie heiraten. Da ist unterschwellig die Sorge, den Mann zu verlieren, wenn sie nicht jede Rolle – Geliebte, Hausfrau, Mutter, geistige Partnerin – gleich souverän erfüllt. Da hat er dann oft das Gefühl: nun hat sie mich „gecatcht“, und er flieht aus dem Haus in die Arbeit oder sonst wohin. Später erscheint es oft umgekehrt, wenn die Frau sich durch die Belastung von Haushalt (und Beruf) überfordert glaubt, fühlt sie sich wie in einem Gefängnis, aus dem sie ausbrechen möchte. Die meisten Scheidungen gehen heute von den Frauen aus, und die Männer sehen sich Verlassensängsten gegenüber.
K: Bahnt sich da nicht bei den jungen Leuten eine andere Einstellung an? Die Karriere ist nicht mehr das alleinige Lebensziel, das Miteinander mit dem Partner hat einen höheren Stellenwert?
H: Ich sehe da schon eine Rückbesinnung auf traditionelle Werte; nicht im konservativen Sinne als eine Flucht zurück, eher auf einem höheren Erkenntnisniveau. Wir haben nach dem Krieg, in den letzten 50 Jahren, nur die scheinbar unendliche Fülle der Aufbaumöglichkeiten gesehen. Möglichkeiten ohne Grenzen. Mit der Ökologie-Debatte geriet das Wort “ Grenzen“ mehr in den Mittelpunkt. Wir begrenzen uns wieder freiwillig auf kleinere Einheiten. Das kann die Familie sein. Wie ja auch die Konzerne dazu übergehen, sich in der Organisation zu dezentralisieren. Trotz der Globalisierung vor allem im wirtschaftlichen Bereich, ermöglicht durch die New Economy, bleibt der Slogan: „Small is beautiful“ sinnvoll. Seine Durchsetzung kann die Chancen zu mehr Besinnung bieten, um eventuell neue Prioritäten zu setzen. Ich bin selbst in meinem Leben auch sehr spät darauf gekommen, dass die Möglichkeiten sich erst wirklich zeigen, wenn man die Grenzen kennt. Nennen wir es ökologisches Bewusstsein, dass wir uns einordnen in die Natur, deren Teil wir sind. Wir stellen uns nicht mehr außerhalb und nicht mehr über sie. Natur und Vernunft begreifen wir nicht mehr als Gegensätze. Am Anfang denken die meisten, sie können die Welt aus den Angeln heben wie wir in den letzten 50 Jahren. Jetzt müssen wir lernen, uns zu beschränken. Und wenn ich manche verzweifelte Frauen hier bei mir sehe (auch die von den Zeitschriften so gerne vorgezeigten Karriere-Paradepferde), da denke ich oft an Goethe, an das Märchen von den Auswanderern. Da sagt die Schlange, ich opfere mich lieber auf, bevor ich selber aufgeopfert werde. Aufopfern hat da viel eher den Sinn: ‚aufgehen‘ in etwas, seine Form finden. Und sich zu fragen, was sind meine Begabungen, meine Stärken, meine Möglichkeiten.
K: Was würden Sie heute einem jungen Mädchen raten. Haben Sie eine Art Leitfaden zur Lebensplanung?
H: Eben das gerade nicht. Sie soll sich immer die Freiheit bewahren, eine frühere Entscheidung zu revidieren. Es gibt ein wunderbares Buch von Catherine Bateson, das heißt ‚Composing a Life‘. Darin beschreibt sie fünf Frauen-Schicksale. Alle hatten ihr Leben jeweils anders geplant, als es tatsächlich verlief. Alle aber besaßen Vertrauen in ihre Fähigkeiten. Und das heißt aber auch: nicht alle Möglichkeiten, die man hat, gleich optimieren wollen. Immer wieder höre ich: erst das Studium beenden, dann heiraten, Kinder usw. Warum? Wenn der Richtige kommt, warum nicht erst heiraten und später studieren? Zwei Frauen haben zum Beispiel ein Medizinstudium begonnen. Die eine hat ihren Doktor gemacht, dann geheiratet, drei Kinder bekommen und auf den Facharzt verzichtet. Die andere hat den Facharzt gemacht, eine Praxis aufgebaut, hat Erfolg. Nun sind beide dreißig und beneiden sich gegenseitig. Dabei stehen beiden, wenn sie nur wollen, noch alle Chancen offen. Deswegen ist es so wichtig, beweglich zu bleiben, immer wieder in sich hineinzuhören, was man wirklich will. Und nicht etwas zu tun, nur weil es alle so machen oder weil es angeblich so vernünftig ist. Oder da ist eine Frau, die eine Beziehung zu einem verheirateten Mann hat. Gemeinsam haben Sie eine Firma aufgebaut. Er starb dann plötzlich und hatte sein früheres Testament nicht geändert. So erbten die Ehefrau und die Kinder das Geld. Sie stand mit der Firma und vielen Schulden da. Und da fühlte sie plötzlich ein starkes Engagement in sich. Sie dachte an die Angestellten, die arbeitslos würden, wenn sie aufgibt. Sie wurde einer der erfolgreichsten Managerinnen. Geplant hatte sie das nicht.
K: Sie kennen die Vorurteile, die viele gegen Psychologen haben?
H: Die hilflosen Helfer, ja. Ich habe mal einen berühmten Züricher Psychologen gefragt, warum das so ist. Der sagte, es gibt zwei Gründe: Es studieren oft die Falschen, oder das Studium ist schlecht, wenn es, wie meist, rein naturwissenschaftlich-statistisch ausgerichtet ist.
Ich bin froh, dass ich zusätzlich Literatur und Philosophie studiert habe. Mich fasziniert, was bewirkt Sprache? Was bewirkt das richtige Wort zur richtigen Zeit? Das gibt ein bisschen Distanz, aus der heraus man besser helfen kann.
Und noch etwas ist in diesem Beruf problematisch. Man schafft, vielleicht ohne es zu wollen, neue Abhängigkeiten. Der eine will Rat und glaubt ihn kaufen zu können. Und der andere lebt davon, dass er diesen Rat verkauft. Da bleibt oft das Wichtigste auf der Strecke: dass man die Selbstverantwortlichkeit der Patienten stärkt. Daß sie diejenigen sind, die zusammen mit dem Therapeuten den Zeitpunkt bestimmen, wann die Therapie zu Ende ist.
31. Januar 1991