Andreas S. hatte in der Wochenendbeilage der Süddeutschen Zeitung über die Daseinsanalyse, einer hermeneutisch-phänomenologisch grundierten Therapieform der Psychoanalyse, gelesen und bei der Zeitung nach Adresse und Telefonnummer der Verfasserin gefragt. Er rief an, um einen Termin zu vereinbaren.
„Ich habe Ihre Ausführungen gelesen, aber nur die Hälfte verstanden“, sagte er nach dem Betreten der Praxis, „aber der Ton hat mir gefallen.“ „Das freut mich und nun möchten Sie die andere Hälfte verstehen?“ „Ja.“ Pause. Nachdenken. „Ich komme wegen folgendem Sachverhalt, ich möchte kontrollierte Aggression erlernen.“
Ich überlegte, was er meinen könnte und antwortete „Das können Sie ja bereits, das Wort Aggression kommt vom lateinischen aggredi – auf jemanden zugehen. Und Sie sind hierhergekommen.“ Fassungslos brach Andreas S. in Tränen aus und erlebte dies, wie er es empfunden haben mag, als Kontrollverlust. Aber die Fesseln waren gelöst. Gleich in der ersten Stunde war das ‘richtige‘ Wort zur richtigen Zeit gefallen, etwas das wir Kairos nennen, das nicht geplant werden kann, sondern einfach geschieht. Es brach einen Bann und eröffnete einen Zugang zu einem tiefen Schmerz, der sich in einem geschützten Raum äußern konnte.
Zwei Jahre lang kam Adrian S. meist regelmäßig einmal die Woche in die Praxis. Er war in der Werbebranche tätig, hatte Schwierigkeiten mit seinem Chef, einigen Kollegen und mit der Akzeptanz seiner Freundin, einer Krankenschwester, in seiner Familie. Im Vordergrund stand seine Alkoholsucht, er sei ein Quartalstrinker mit Abstürzen mindestens einmal im Monat. Als Kind habe er bereits einen zwanghaften Waschzwang und eine merkwürdige Verhaltensstörung „gelegentliches Rückwärtsgehen“ entwickelt und sei bei mehreren von seiner Mutter ausgesuchten Therapeuten gewesen. Von Geburt an fühle er sich als unerwünscht.
Seine Mutter hätte in der unsicheren Nachkriegszeit kein drittes Kind mehr gewollt und ihm erzählt, sie sei oft geritten, auch noch in fortgeschrittener Schwangerschaft in der Hoffnung, es käme zu einem natürlichen Abgang. Seit Monaten leide er an Depressionen, so bezeichne das seine Freundin, denn er käme morgens nur schwer aus dem Bett. Die Beziehung zu ihr sei belastet und er wüsste nicht, warum sie bei ihm bleibe, befürchte sie zu verlieren.
Zu den verabredeten Zeiten erschien Andreas S. pünktlich, machte Bemerkungen über seine Kleidung, die er der Farbgebung der Praxiseinrichtung angepasst habe, fragte, wie seine Krawatte mir gefiele und welche Verbesserungsvorschläge er für das Mobiliar habe. Nähe und Distanz wurden zu einem der wichtigen Themen in den Therapiestunden und in seiner Alltagswelt. Irgendwann fragte ich ihn nach seinen Träumen. Er träume nicht. Ich schlug vor, Papier und Stift auf seinem Nachttisch zu legen. „Sie könnten, sobald Sie aufwachen, aufschreiben, was Ihnen so einfällt, geträumt oder nicht geträumt.“
In der folgenden Woche brachte Andreas S. ein Diktaphon mit, er habe tatsächliche einen Traum gehabt, legte sich auf die Couch, sein Gerät auf die Brust und drückte auf den Wiedergabeknopf. Er hörte aufmerksam seinen eigenen Worten zu und wunderte sich über seine Stimme, sie komme ihm fremd vor, wie überhaupt er sich als Person. Nach einiger Zeit, wenn er wieder einmal einen Traum aufgesprochen hatte, bat ich ihn, diesen nochmals mit eigenen Worten wiederzugeben, da ich akustisch einiges nicht verstanden hätte. Das Wiederholen und Erinnern gestalteten sich nun ganz konkret, gerichtet an jemanden, der mit Interesse zuhörte. Nach einigen Wochen – mit und ohne Träume – meinte er, er könne sich das Gerät sparen und gleich seinen neuen Traum erzählen.
Seine gelegentlichen Abstürze in die Sucht, seine spontanen Einfälle, das Ausagieren, die Übertragungen und Gegenübertragungen, insgesamt das ‚Durcharbeiten‘ nahmen viel Raum ein. Von einigen Alb-, Klar- oder Wunschträumen, rätselhaften und manchmal aufschlussreichen, fühlte er sich aufgewühlt und erschöpft. Später sprach er emphatisch von Kinderängsten und Traumgespinsten, von Nachtmahr und Sternstunden.
Träume – ausgelöst zur Bewältigung großer Erregungsintensität – stellen oft in Bildern dar, was in für den Einzelnen unzumutbaren Situationen nur durch unterbliebene Angstäußerungen auszuhalten gewesen war. Der Träumer sucht nun etwas nachzuholen, das den weiterhin virulenten Ängsten die seelische Macht nimmt. Eine zusätzliche Aufgabe von Träumen kann auch ein unbewusstes Strafbedürfnis mit Wunscherfüllungstendenz sein. Dann dienen sie einer Beschwichtigung, einem Selbstschutz gegenüber einer alten „vorgehaltenen“ Schuld, sich einem bestimmten gesellschaftlichen Codex anzupassen.
Im Abstand zu den ursprünglichen Geschehnissen und nach Zeiten des Leidensdrucks kann es gelingen – die Gefahr einer möglichen Retraumatisierung im Blick behaltend – im therapeutischen Raum diese Gefühle im Nachgang zu integrieren und sich selbst als eine ‚historisch‘ gewordene Person mit der je eigenen Geschichte anzunehmen.
Nach drei Jahren kam Andreas S. in größeren Abständen, zunächst einmal im Monat, dann seltener. Er hatte als Rückversicherung für den Fall der Fälle die Praxistelefonnummer.
Eines Tages erhielt ich per Post eine Einladung zu seiner Hochzeitsfeier. Hier traf ich auf seine Freundin, die Braut, auf die Mutter, Brüder und Arbeitskollegen. Es war, als sei ich Zuschauer und zugleich Mitakteur in einem Theaterstück. Keine erfundenen Figuren oder irgendein Traumpersonal standen auf der Bühne. Vielmehr fand ich mich als Gast mitten in einer lebhaft bunt gemischten Gesellschaft, wie im ‚richtigen’ Leben.
Nachtrag und Übergang
Bevor ich mich aus meiner Praxistätigkeit allmählich zurückzog – außer von den Kriseninterventionen mit drei oder vier Stunden wöchentlich -, reichte ich für einen wichtigen Teilbereich therapeutischer Konfliktthemen den Stab der Staffel meines beruflichen Lebens weiter.
Rita K. hatte Hilfe wegen Schlafstörungen und Erschöpfung durch Familie und Alltag gesucht. Sie befände sich einer Sackgasse, müsse ihr Leben neu überdenken, ändern, ordnen, zumal ihr um Jahre älterer Ehemann in Pension ginge. Sie habe ihn als Witwer mit drei kleinen Kindern geheiratet und es kam noch eine gemeinsame Tochter zur Welt. Ihr Mann freue sich nun über einen ruhigen gemeinsamen Lebensabend, während sie noch einmal beruflich durchstarten wolle. Nun befürchtete sie, dass ihre Rolle, Wertschätzung und Position in der Familie und Partnerschaft in Frage gestellt werden.
Es ging über Wochen darum, an frühere Wünsche, Begabungen und Tätigkeiten anzuknüpfen, um ihre Talente und Stärken deutlicher zu erkennen. Sie suchte die realen Möglichkeiten im familienfreundlichen, gesellschaftlich akzeptierten und finanziellen Rahmen herauszufinden. Ein Kunststück, das gelingen kann, wenn Ehepartner, Kinder und Umfeld ebenfalls sich zu Anpassungen bereitfinden.
Rita K. hatte ursprünglich Mineralogie und Biochemie studiert. Sie holte sich Kraft und Ermutigung aus den Gesprächsstunden, erkannte aber auch, dass nicht alle Wünsche erfüllbar sind. Schließlich fand sie, dass ihr praktisches Alltagswissen und ihr strukturiertes Denken über chemische Verbindungen and biologische Verflechtungen gut zu übertragen waren auf menschliche Situationen, auf Atmosphäre, Stimmungen und Konfliktausgleich. Sie begann eine pädagogisch-psychologische Ausbildung für Familienberatung.
Erneut begann auch für mich ein anderer Lebensabschnitt. Ich hatte zuvor bereits einmal einen Berufswechsel vollzogen, als ich mich vom Lehrerberuf nach der Geburt meines zweiten Kindes beurlauben ließ. Meine Aufmerksamkeit galt nun der Familie und den Kindern. Eine erfüllte Zeit! Doch ein allmähliches Auseinanderleben in der Partnerschaft zeitigte Krankheit und Scheidung. Ich begann ein Zweitstudium der Literaturwissenschaften. Lesen, Schreiben und der Zugang zur Kunst – zu den Bildwelten von Malerei, Fotografie und Dichtung, von Film, Musik und Theater – begleiteten mich von Jugend an.
Anglistik und Geschichte, meine Unterrichtsfächer, behielt ich als Nebenfächer bei. Sie blieben wichtig, erleichterte mir doch die englische Sprache – neben Shakespeare und Virginia Woolf – die Welt durch Reisen kennenzulernen und den Songtexten von Folk, Soul, Country und Rock’n’roll auf die Spur zu kommen. Das Interesse an Geschichte war vom Wunsch geleitet, ethnologische und gesellschaftspolitische Zusammenhänge zu vertiefen. Meine wissenschafts-, sprach- und gesellschaftskritische Dissertation über Krankheit und Medizin im literarischen Text ermöglichte mir zusätzlich in Anerkennung meiner Lehrtätigkeit die berufsbegleitende psychoanalytische Ausbildung in Zürich.
Nach Jahren der Praxistätigkeit im Lehel am Viktualienmarkt in München ergab sich wiederum eine neue Situation. Tochter und Sohn waren zum Studium ausgezogen. Und mein Vater, Architekt und Unternehmer, der nach dem Tod meiner Mutter weiter tätig gewesen war, wurde in seinem zweiundachtzigsten Lebensjahr durch Sturz und anschließender Operation zum Pflegefall. Neben der Fürsorge für ihn wurde ich für einige Jahre zu einer, was andere als geschäftsführende Unternehmerin bezeichnen würden, für mich selbst war es gewissermaßen die Notwendigkeit der Stunde. Eine neue Seite von „Composing a Life“ war aufgeschlagen worden.
(1998 / 2024)