Die Gedanken eines Jahres. Nach sechzig Jahren
Zu Ernst Meisters Dichtung

 

Oft der Gedanke: Wenn nun die Hoffnungen aller je lebenden Frommen – Milliarden sind’s – sich als eitel erwiesen, buchstäblich eitel? Wenn die Lehren aller Kirchen, aller Religionen, die von einem Jenseits reden, nach Ewigkeiten sich als Trug herausstellten … das wäre ein fürchterlicher, ein schauriger Witz. – Was aber meinte ich, wenn ich derlei buchstäblich der Eitelkeit verdächtigte? Dies meine ich: Dass das arme Tier, das wir in Wirklichkeit sind, in seinem grandiosen die Welt tragenden Kerne gegenüber allen schönen Aussichten resigniert ist. Ein Nie-zu-Entdeckendes wird in unserem Gefäße behaust sein, das unvergleichlich demütiger ist als zum Beispiel christliche Demut. Dieses Etwas in uns weiß um den ewigen Abschied. Es ist das Kamel, das der Last der Hoffnungslosigkeit gewachsen ist und sich mit der Tatsache des ewigen Todes unseres Bewusstseins abgefunden hat. Freilich ist alles um diesen Kern, dieses Organ herum Angst, und diese Angst ist ausgewalzt in die Billionen Zeilen der menschlichen Testamente, die nicht allein des Menschen Sehnsucht nach Nichtvernichtbarkeit erkennen lassen, sondern auch der Erhaltung des alten Ich und der bewussten Existenz. (*)

 

Diese Betrachtung eines von insgesamt fünfhundertsiebzig Aphorismen (01) schrieb Ernst Meister 1948 im Alter von siebenunddreißig Jahren in Form von Tagebuchseinträgen. Fast ein halbes Jahrhundert zuvor arbeitete ein anderer Dichter, Rainer Maria Rilke im Alter von fünfunddreißig Jahren an „Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“, die 1910 – ein Jahr vor dem Geburtsjahr von Ernst Meister – veröffentlicht wurden. Ähnlich wie Meisters „erzählerische Miniaturen“ (02) entstand dieses literarische Werk nach einer persönlichen Krise, in der sich die existentielle Grundstimmung des 20. Jahrhunderts widerspiegelt: die Daseinsangst. In „Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“ heißt es: „Ich habe etwas getan gegen die Furcht. Ich habe die ganze Nacht gesessen und geschrieben…“ und „…die Angst, dass irgendeine Zahl in meinem Gehirn zu wachsen beginnt, bis sie nicht mehr Raum hat in mir; …die Angst, dass ich mich verraten könnte und alles das sagen, wovor ich mich fürchte, und die Angst, dass ich nichts sagen könnte, weil alles unsagbar ist, und die anderen Ängste…die Ängste“ (03). Ein Jahrhundert später wird an der Berliner Schaubühne in dem Theaterstück des jungen britischen Autors Martin Crimp Die Stadt gegen diffus angedeutete Ängste „angeredet“: „Die Hoffnung“, sagt schließlich einer der Protagonisten, ein Schriftsteller „Die Hoffnung, sie macht mich traurig.“

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