Diese Betrachtung eines von insgesamt fünfhundertsiebzig Aphorismen (01) schrieb Ernst Meister 1948 im Alter von siebenunddreißig Jahren in Form von Tagebuchseinträgen. Fast ein halbes Jahrhundert zuvor arbeitete ein anderer Dichter, Rainer Maria Rilke im Alter von fünfunddreißig Jahren an „Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“, die 1910 – ein Jahr vor dem Geburtsjahr von Ernst Meister – veröffentlicht wurden. Ähnlich wie Meisters „erzählerische Miniaturen“ (02) entstand dieses literarische Werk nach einer persönlichen Krise, in der sich die existentielle Grundstimmung des 20. Jahrhunderts widerspiegelt: die Daseinsangst. In „Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“ heißt es: „Ich habe etwas getan gegen die Furcht. Ich habe die ganze Nacht gesessen und geschrieben…“ und „…die Angst, dass irgendeine Zahl in meinem Gehirn zu wachsen beginnt, bis sie nicht mehr Raum hat in mir; …die Angst, dass ich mich verraten könnte und alles das sagen, wovor ich mich fürchte, und die Angst, dass ich nichts sagen könnte, weil alles unsagbar ist, und die anderen Ängste…die Ängste“ (03). Ein Jahrhundert später wird an der Berliner Schaubühne in dem Theaterstück des jungen britischen Autors Martin Crimp Die Stadt gegen diffus angedeutete Ängste „angeredet“: „Die Hoffnung“, sagt schließlich einer der Protagonisten, ein Schriftsteller „Die Hoffnung, sie macht mich traurig.“
Angesichts dieser beiden Positionen, die von Rilkes Roman- und die von Crimps Theaterfigur, offeriert Ernst Meister als Dichterphilosoph eine andere Perspektive. Nicht aus der Sicht einer einzelnen Roman- oder Theaterfigur, vielmehr allgemein spricht Meister: „Freilich ist alles um diesen Kern, dieses Organ herum Angst, und diese Angst ist ausgewalzt in die Billionen Zeilen der menschlichen Testamente“, auch spricht er nicht von Trauer, sondern in Hinsicht der Hoffnung auf ein ewiges Leben: „das wäre ein fürchterlicher, ein schauriger Witz“.
Meisters lebenslange Auseinandersetzung mit der christlichen Tradition und grundsätzlich mit der Stellung des Menschen in der Welt ist im Wesentlichen denkerisch – nüchtern vor allem geprägt vom Existentialismus der Nachkriegszeit. Es geht ihm vordergründig nicht um Glaubensfragen, vielmehr um die Aufhellung der prekären menschlichen Situation – auch wenn seine Bildmotive und Urbilder „buchstäblich“ aus dem Buch der Bücher stammen, so z.B. wie hier die „Testamente“ oder das „Kamel“, das im Neuen Testament (z. B. Markus 10,25) auf die Frage des Reichen nach dem ewigen Leben eher durch ein Nadelöhr passen soll als dieser das ewige Leben erlangen würde. In Meisters Formulierung wandelt es sich – auch in Anspielung auf Nietzsches Also sprach Zarathustra (04) – zum „armen Tier, das wir in Wirklichkeit sind“, „das der Last der Hoffnungslosigkeit gewachsen ist und sich mit der Tatsache des ewigen Todes … abgefunden hat.“ Resignation im Sinne von Ergebenheit und Gefasstheit – ist für Meister die angemessene geistige Haltung „unvergleichlich demütiger… als zum Beispiel christliche Demut.“
Die seit Jahren geführte Diskussion um das christliche Erbe des Abendlandes (05) lässt Meister aktuell und visionär erscheinen. Denn während in den verschiedenen Publikationen zum einen unterschieden wird zwischen dem frommen und dem säkularen Atheisten und zum anderen der Schöpfergott wieder in den Mittelpunkt rückt, hält Meister fest: „Die nächste Religion wird wahrscheinlich nicht durch einen Stifter begründet werden. Und in einem Brief an seinen Hochschullehrer und Freund Karl Löwith schreibt er 1949, dass die „heidnischen Kerne im Christentum an ihm das noch schätzbare sind.“ (06)
Folgen wir mit Ernst Meister bezüglich seiner Deutung der Hoffnung der „heidnisch“- griechischen Mythologie: Zeus hatte der Halbgöttin Pandora (gr. die Allbeschenkte) die Büchse, den Vorratskrug (griechisch pithos – das große irdene Gefäß) gereicht, welche ihr Mann, Epimetheus, dem Bruder des Prometheus geöffnet hatte. So kam Übel, Krankheit und Tod in die Welt (07) in einer Zeit, in der Menschen wie Götter noch unsterblich waren. Denn bevor auch „elpis“ (Hoffnung, griech.) aus dem Gefäß entweichen konnte, wurde es wieder geschlossen und die Welt ein trostloser Ort, bis Pandora es öffnete und so auch die Hoffnung in die Welt ließ. Im griechischem Denken war die Hoffnung gerichtet auf das innerweltliche Leben, auf die Phasen zwischen den glücklichen Augenblicksmomenten. In der christlichen Lehre richtet sich die Hoffnung auf die Erlösung vom diesseitigen Jammertal, auf ein besseres Jenseits, auf ein ewiges Leben nach der Auferstehung der Toten und dem Jüngsten Gericht. Meister spricht zwar von der Last der Hoffnungslosigkeit, aber auch von den Zweifeln an den Jenseitsvorstellungen der Kirchen- und Religionslehren. Was, fragt er – das Wort „Ewigkeit“ im weltlichen Sinne gebrauchend – wenn diese „nach Ewigkeiten sich als Trug herausstellten“? Das Wissen um den „ewigen Abschied“ – hier das christlich besetzte Wort negativ konnotiert – meint das endgültige Nichtigsein, den „ewigen Tod“, – „das reinste und klarste aller Gesetze“ (08). Die Ewigkeit, räumlich aufgefasst als ein Unendliches, „ein Gefäß ohne Wand und Boden“ und dennoch ungeteilt, enthält ihm zufolge „Leere und Fülle (09)“ und hinzuzufügen wäre: und alles, was dazwischen ist.
Dem vom Ende her verängstigten Menschen dagegen muss die „Sehnsucht nach Nichtvernichtbarkeit“ vor allem der bewussten personalen Existenz übermächtig werden. Doch in seinen Schriften betont Meister gerade auch das polare und komplementäre Denken (10). Wenden wir dieses auf die drei göttlichen Tugenden Glaube, Liebe, Hoffnung an und denken ihr Gegenteil mit, so wären es: Glaube – Zweifel, Liebe – Hass, Hoffnung – Furcht. In Meisters Prosatext ist die Furcht bzw. die Angst eher ins Zentrum gerückt als Sinnesempfindung, während der wirkliche Kern, das Wovor der Angst zunächst als diffuse Angst vor der Angst im Raum stehen bleibt. Sie wird erst konkret als Furcht vor dem Tod, vor dem Nichtigsein. Im Vorwort von Meisters „Prosa“ kennzeichnet Beda Allemann sein Werk im Gesamten: “Das Generalthema aber bleibt der Tod“ (11); demzufolge müssten die Gegensatzpaare lauten: Glaube – Zweifel, Liebe – Hass, Leben und Tod. Zur Seelenstärke und Geisteshaltung gehören mithin die drei Tugenden Glaube, Liebe, Leben.
Für Meister ist Leben = Atmen = Denken = Dichten. Das heißt auch ein „Nie-zu-Entdeckendes“ denkerisch als rätselhaftes Paradox anzunehmen, dass wir erkennen, dass wir nicht erkennen: letztlich unser Woher und Wohin, Anfang und Ende. Nur wenige zeitgenössische christliche Denker konnten sich zu einer solchen kompromisslosen Haltung durchringen, bei der auch die letzte Bastion dem Zweifel, der Vorläufigkeit und dem Scheitern ausgesetzt wird, um notwendig schlussfolgernd die Würde des Menschen in seiner geistigen Existenz hervorzuheben, ein bewusstes Leben zu führen.
Seit dem Tod von Ernst Meister hat sich an der existentiellen Situation des Menschen nichts geändert, an der bedrückenden Erfahrung der Verlorenheit und absoluten Trostbedürftigkeit angesichts des ökonomischen und physikalischen Weltbildes der Moderne. Die Bedeutung von Meisters Werk für die Gegenwart besteht darin, bei allem Schrecken und Schauer über die Abgründe des Nichts die Tiefendimension der Endlichkeit immer wieder ins Bewusstsein zu rücken und in gedanklicher Klarheit zu antworten: mit der Einordnung des Menschen in ein großes Ganzes ohne vorgestellte externe Autorität. Als freier Geist, der Nihilismus und Verzweiflung abwendend die Einsicht gewinnt, dass er nicht in den Bildern aufgeht, die er sich von sich selbst und der Welt macht, sieht der Dichter den Menschen als jemanden, der nicht aus einem Mangel herauslebt, vielmehr aus einer Leere verstanden als Potential, aus dem Überfluss und Fülle hervorgeht.
Schön ist
die Erde in sich.
Es gibt
kein Gedächtnis
außerhalb ihrer.
Die Hoffnung
findest du drüben
als der Vorstellung
Leichnam.
Du sagst, es sei
das Einzige, dieses
Hier, und das,
ist wahr, gewiß
Doch nehmen sich
wenige wirklich
des Atems an.
Die meisten suchen
Das Denken nicht,
und viele
sind gefangen
in Not.
Wir leben
von den Entfernungen.
Der Tod
kommt uns vor
so weit wie der höchste
Stern.
Ein Geschäftiges der Natur
setzt Maße in uns.
(12)
Insgesamt eröffnet Meisters dichterisches Werk in Formen von nüchterner Einfachheit und Komplexität Reflexionen über die zeitliche Dimension der Natur, die den Tod als Mysterium und Verwandlung kennt. Unvollendet in endloser Folge gegen die Ewigkeit ist diese Welt geprägt nicht vom Zeitlosen, vielmehr im Sinne von „sempiternitas“ (13) vom Immerwährenden. So gesehen gewährt der ewige Kreislauf der Natur Kontinuität und Geschichte.
(*) Ernst Meister, Prosa 1931 — 1979 Heidelberg 1989, S.139 -260, S.166 (134)
01 Ernst Meister, Prosa 1931–1979, Darmstadt 1989, Gedanken eines Jahres, S. 345
02 Beda Allemann, in: Ernst Meister, Prosa 1931 – 1979, Darmstadt 1989, Vorwort, S.15
03 Rainer Maria Rilke, Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, Frankfurt 1982, S.19 u. S. 56
04 Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra I-IV, Berlin/N.Y., 1988, S. 29: Drei Verwandlungen nenne ich euch des Geistes: wie der Geist zum Kamele wird, und zum Löwen das Kamel, und zum Kinde zuletzt der Löwe. Vieles Schwere gibt es dem Geiste, dem starken, tragsamen Geiste, dem Ehrfurcht innewohnt: nach dem Schweren und Schwersten verlangt seine Stärke. Was ist schwer? so fragt der tragsame Geist, so kniet er nieder, dem Kamele gleich, und will gut beladen sein. Was ist das Schwerste, ihr Helden? so fragt der tragsame Geist, daß ich es auf mich nehme und meiner Stärke froh werde. Ist es nicht das: sich erniedrigen, um seinem Hochmut wehe zu tun? Seine Torheit leuchten lassen, um seiner Weisheit zu spotten?
05 George Steiner, Grammatik der Schöpfung, München 2004
Burkhard Müller, Das Konzept Gott – warum wir es nicht brauchen, in: Merkur Heft 694, 02/2007
Christian Döring (Hg.), Gott lebt wieder. Gespräche zum Glauben im 21. Jh., München 2008
André Comte-Sponville, Woran glaubt ein Atheist? Spiritualität ohne Gott, Zürich 2008
Herbert Schnädelbach, Religion in der modernen Welt, Frankfurt 2009
06 Ernst Meister, 1911-1979 Leben und Werk in Texten, Bildern und Dokumenten, hg. v. Bernhard Albers (Abb.) u. Reinhard Kiefer (Texte), Aachen 1991, S. 35
07 vgl. Dora und Erwin Panowsky, Die Büchse der Pandora, Der Bedeutungswandel eines mythischen Symbols, Frankfurt 1992
08 Ernst Meister, Prosa, S. 152 (78)
09 Ernst Meister, Prosa, S. 142 (12)
10 ebd. Prosa, S. 170,(153), S. 231 (320), S. 257 (551)
11 Beda Allemann, ebd., S. 15, vgl. Reinhard Kiefer, Text ohne Wörter, Die negative Theologie im lyrischen Werk Ernst Meisters, Aachen 1992
12 Ernst Meister, Wandloser Raum, Gedichte, Darmstadt 1979, u.a. S. 59, 62,29
13 Karl Löwith, Kant, in: Sämtliche Schriften 9. Gott, Mensch und Welt in der Phil. d. NZ, G.B. Vico bis Paul Valéry, Stuttg. 1986, S.51-65, S. 58; Ernst Meister, Prosa, S.202 (280), S. 209 (315)
© Rosemarie Zens, in: Ernst Meister Jahrbuch 2005-2009, Aachen 2009, S. 101-106
basierend auf dem Vortrag gehalten bei der Ernst-Meister-Tagung
„Dass einer es läse“ Heinrich-Heine-Institut Düsseldorf 15.6.2009