Vom Mythos des Unterwegsseins. Journeying 66
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THE ROAD
a sentimental journey
Morgens, Tulsa, Oklahoma im August 2010. Mein 66. Geburtstag. Der Plan, einen Wagen zu mieten. Neben dem Lenkrad die Straßenkarte der Route 66, die ich 1966 in eben dieser Stadt kreuzte und im Greyhound Bus bis Santa Monica, CA, weiter bereiste. Die Straße existiert noch zum Teil als historische Route, während sie in einigen Abschnitten durch Interstate Highways ersetzt wurde. Die Hoffnung, noch Spuren der Erinnerungen und des damaligen Lebensgefühls zu finden. Mit der Vorstellung über den September hinaus die Zeit auszudehnen – mit der Sonne gen Westen durch drei Zeitzonen und fünf Staaten von Tulsa, Oklahoma, und Amerillo, Texas, nach Albuquerque, New Mexico, und Flagstaff, Arizona, bis nach Santa Monica, California. → weiterlesen
DER ÜBERHÖHTE MYTHOS
recalculating 2844 point 6 miles – turn left, then turn right, end of destination. recalculating…
Von Anfang an diese Frage: ist es möglich, einen Mythos zu unterlaufen, ohne ihn ironisch zu brechen, ihn zu modifizieren durch eigene Einlassungen? Dieser Mythos – längst Bestandteil unseres kollektiven Gedächtnisses – bewahrt im Unterbewusstsein die Bilder des sozialkritischen Romans Früchte des Zorns (1939), verwoben zum all-American going on the road – there is always something to find that is better, there is something new down the road, around the bend. Auch die Momente des Wiedererlebens der ersten Fahrt. Die Angst, in Motels zu übernachten, ausgelöst durch die Horrorszenen in Hitchcocks Psycho (1960). Die Déjà-vu Szenen aus Filmen von Wim Wenders und Rosa von Praunheim, die Fotos von Robert Frank, Robert Adams, Stephen Shore und anderen, sie alle tragen zur Faszination dieser Strecke bei, den Bildern von Verfall, Vergänglichkeit, von Scheitern und Verklärung. Aber auch die erneute Erkenntnis über die nach eigenen Gesetzen sich wandelnde und insofern gleichbleibende Natur. Ihre Erhabenheit. Das großartig Schrecklich-Schöne an ihr.
Und gleichzeitig der Wunsch – eindringlich und prekär – sich von all dem zu befreien und das Gegenwärtige zu erleben im Ford Escape: the idea to go west on Route 66 to the California beaches. That is about freedom, the freedom to make choices, and the ability to just go.
DIE BILDER
closed little words or open free worlds
Das Experiment durch Erinnern/Wiederholen/Reisen anzuknüpfen an das Lebensgefühl der 1960er Jahre, an die Aufbruchsstimmung einer Umbruchszeit. An den unbedingten Glauben, alles sei möglich. Die individualisierten Formen von Protest, Widerstand und Emanzipation. So jedenfalls dem Ton nach zu lesen in meinem Reisetagebuch von 1966. Mit den an den Rand geschriebenen Zeilen der beginnenden politisch werdenden Folk/Blues/Country Songs. Von Pete Seeger, Woody Guthrie, Joan Baez, Bob Dylan, Harry Belafonte, Joni Mitchell. Musikern, die aus dem Fundus der gesamten Weltmusik schöpfen. Zusammengeführt im Rock ’n’ Roll mit seinem Programm der politischen, sexuellen und spirituellen Befreiung.
Daneben Auszüge aus dem Reisebuch John Steinbecks Travel with Charley. In Search of America (1962). Hier finden sich bereits gebündelt die Themen der Zeit: Rassismus und die Ausbeutung der Natur, die Selbstausbeutung und -zerstörung. Es folgen die Bürgerrechtsbewegung und die Empörung über die politischen Morde. Über den kalten Krieg und die Stellvertreterkriege, über die Gewalt gegen Frauen, Afroamerikaner, Indianer, Juden und Homosexuelle. Die Gegenkultur-Träume. Und die Versuchung, sich einem gewissen Eskapismus hinzugeben, einen comic relief herbeizusehnen oder sich in Bildern aufzulösen – nicht um im Irgendwo zu entschwinden, sondern um wieder Energie aufzutanken.
Dafür spricht der Einsatz der Kamera, die vielleicht mehr als die bloßen Augen festhalten. Einzelheiten, closed little words oder open free worlds. Bei dieser rückwärts wie vorwärts gerichteten Bewegung. Angetrieben von der ewigen Suche nach Zusammenhang in Konfrontation mit der Welt und sich selbst und den Bilder von unterwegs like the rolling stones on the lost highway. Auf der „Bilderjagd“ zwischen Eroberung und Entdeckung. Mit Hilfe von GPS zum Finden der Unterkünfte und der herkömmlichen Landkarte zur Orientierung auf den Langstrecken. Und dem Registrieren, dass in den vereinzelten Internet Cafés die PCs meist besetzt sind zum Hin- und Herklicken, den Maßstab hinauf und herunter, zwischen Google Earth und Google Maps.
the endless highway providing another escape
Die Sequenz der Photos hat zwar einen gesetzten Anfang, aber lässt das Ende offen für Variationen. Was bestimmt die Abfolge, welche Wirkung hätten andere Anordnungen, Sichtweisen, Vorschläge? Gleichsam zum Füllen der Risse und Schlaglöcher mit dem in der Sonne klebrig-glänzendem Teer. Welche Verfärbungen und Beschönigungen. Und Begradigungen an den ausgefransten Rändern. Der Abrieb. Das Ausgeliefertsein an die Umgebung. Die Widerstandskraft gegen extreme Hitze, Frost und Wind. Statt Öltürme nun meilenweit Windräder und Rinderfarmen mit Schlachthöfen. Dazwischen die Cadillac Ranch. Zehn in den Boden zementierte Autowracks besprüht mit Ölfarben. Die Aufforderung. Die zur Pop-Art erhobene Mitmachkunst.
Eine Weise, den Zufall zu zähmen. Den Augenblick und die Umstände. Durch das Wahrnehmen des Windes, der Autos, die vorbeifahren, der Musik, die ich höre, der Menschen, denen ich begegne. Der linearen und simultanen Zeit in den Landschaftsräumen. Und mit den Ablichtungen die Verwandlung von deren Mehr- zur Zweidimensionalität verdichtet zu energetisch aufgeladenen Momentaufnahmen. Wie sind die das Bewusstsein prägenden Strukturen in Bildern sichtbar zu machen, wie die Verflechtungen und Ambivalenzen offenzulegen, nach denen Emotionen sich ausrichten? Was bekommt wie eine neue Bedeutung? Überraschung und Atempause, Bewegung und Stille. Das Geheimnis. Die Verlorenheit. Da ist die Linie, der Rahmen, die Begrenzung. Der Kontrast, die Abstraktion, das Bild. Für das verführerische Licht und den unendlichen Himmel.
Nach tagelangem Fahren über die hügeligen Straßen Oklahomas, den Straßenlinien folgend, dem sich immer weiter entziehenden flimmernden Horizont entgegen. Dann die Dörfer und Kleinstädte, damals wie heute – prosperierende und in sich verfallene. An den Wiesen und Steppen vorbei, den Buschlandschaften, Wüsten, Gebirgen, karg und einladend, abweisend und beruhigend. Die ausgedehnten Überlandfahrten. „I oft times feel pity and regret for those who never knew that wide and open space which lies between the sunset and the dawn; The Prairie“ notiert der amerikanische Landschaftsmaler Olaf C. Seltzer. Durch die Grand Plaines von Texas und New Mexico, den Ausläufern der Rocky Mountains in Arizona, durch die kalifornische Mojave Wüste entlang zum pazifischen Ozean. Die Straße als Fluss, der dort ins Meer mündet. Der flow, der Rausch, die Entgrenzung: die Straße, das bin ich.
always take the long way home
Begleitet von den Santa Fe Trailways, beladen mit Containern aus China, den Güter transportierenden Trucks mit den Aufschriften Dynamic Express, Rockstar Energy Drink, Let’s Roll – from the goodness of milk, Jesus God, You Will Kneel Before Him – und in Abständen den Schildern am Straßenrand: Report Drunken Drivers. „Wenn der Wind Heimweh ist,“ schreibt Bei Dao, „ist der Weg seine Rede.“ Und schließlich dann der Geruch von Algen, Salz und Meer.
In: Rosemarie Zens, Journeying 66, Kehrer Verlag Heidelberg 2012