MOON RABBIT. THE CHINESE JOURNEY PDF
Zum ersten Mal reiste ich 1998 nach China, dort dann von Peking aus im Nordosten entlang des Gelben Flusses nach Kaschgar im Nordwesten des Landes. Drei weitere Aufenthalte folgten, zuletzt 2018. In dieser Zeitspanne von zwanzig Jahren fotografierte ich zunächst mit einer analogen, dann mit einer digitalen Kamera. Im gleichen Zeitraum kam es in diesem großflächigen, bevölkerungsreichen Land zu einer rasanten Umstrukturierung der Gesellschaft. Auf einer anderen Ebene brachte diese Zeit revolutionäre Innovationen in der Fototechnik hervor. Beide Entwicklungen hatten einen großen Einfluss auf meine Wahrnehmung und Bildaufassung.
„Die Zeit ist ein sonderbar Ding!“ sagte ich. „Einmal habe ich eine Liebe verloren. Lange ist’s her. Aber es hört nicht auf, dass ich sie verloren habe.“
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Verwirrung
„Die Zeit ist ein sonderbar Ding!“ sagte ich. „Einmal habe ich eine Liebe verloren. Lange ist’s her. Aber es hört nicht auf, dass ich sie verloren habe.“ (1)
Die Ansichten von Landschaften in dem überwiegend agrarischen Vielvölkerstaat und die Alltagsszenen in Stadt und Land erinnerten mich bei den ersten Reisen an die Vormoderne im Westen. Als würde ich Szenen sehen, die ich von historischen Abbildungen und Schilderungen her kannte und in denen begleitet von politischer Macht und Ausbeutung, von Bevölkerungswachstum und sogar abnehmender Armut sozialpolitische und ökonomische Entwicklungen über Jahrhunderte hin sich fortsetzten. Eine Art historischer Spiegel und zugleich eine Art Tableau, auf dem die Zeit stillzustehen schien.
… zuzeiten umflattert mich die Erinnerung an Dinge, die man erlebt haben muss – wie könnte man sich sonst erinnern! Du hast es selber gesagt: dass Dinge, die wir für Erinnerung halten, Gegenwart sind … Es überzeugt. Dann wieder verwirrt es. Denn es nimmt den Dingen, die uns begegnen, schlechterdings die Zeit, und oft weiß ich nicht mehr, wo in meinem Leben ich mich eigentlich befinde. (2)
Entfremdung
Die folgenden China-Aufenthalte erweiterten meinen Blick: irgendwie müsste es doch möglich sein, während einer Lebensspanne das zu erfassen, was der expandierenden und sich beschleunigenden Welt ausgeliefert ist, wenn es nicht jede Bedeutsamkeit für das individuelle Leben verlieren soll. Ich empfand das Verschwinden von Erfahrungsräumen – wie etwa die bäuerliche Gemeinschaft mit ihren Märkten, den Teestuben und nahegelegenen Straßenimbissen – als einen plötzlichen Verlust.
Wenn wir nicht wissen, wie die Dinge des Lebens zusammenhängen, so sagen wir immer: zuerst, dann, später. Ort im Kalender! Ein anderes wäre natürlich der Ort in unserem Herzen, und dort können Dinge, die Jahrtausende auseinanderliegen, zusammengehören, sich gar am nächsten sein, während vielleicht ein Gestern und Heute, ja sogar die Ereignisse eines gleichen Atemzuges einander nie begegnen. Jeder weiß das. Jeder erfährt das. Ein ganzes Weltall von Leere ist zwischen ihnen. (3)
Es war ein merkwürdiger Zustand, als ob die Zeit mehr in mir lebte als ich in ihr. Welt- und Lebenszeit kreuzten sich auf ungewöhnliche Weise. Daher das Befremden und die Annahme, dass das Lebensgefühl von Menschen mit einer noch viel älteren, weiter zurückliegenden Kultur bezüglich ihrer Erfahrungen heute ein zutiefst anderes sein muss.
Zusammenhang
Das gleichzeitige Nebeneinander von scheinbar Unzeitgemäßem und dem Jetzt einer bloß verlängerten Gegenwart wirkte derart widersinnig und beunruhigend, dass ich begann den Umbau einer Gesellschaft hin zu immer Mehr, Größer und Schneller in Bildern aufzunehmen: die neuen Massenbauten und die Reste alter Wohnviertel, die Veränderungen der Infrastruktur und die Lebensumstände von Binnenmigration sowie die Digitalisierung des Alltags, die Überwachung und das Sozialkreditsystem.
Bild für Bild nahm dieses Disparate und doch irgendwie Zusammengehörende durch das Miteinander-in-Beziehung-Setzen der Aufnahmen einen eigenen Raum ein. Es sind Projektionen aus Vergangenem und Gegenwärtigem. Vielleicht auch eines Zukünftigen, in dem Autonomie und Verantwortung sowie Abstand und Privatsphäre des Einzelnen erhalten bleiben. Man müsste es erzählen können. Eines Tages.
Wir haben den Prozess der Urbanisierung innerhalb von Jahrzehnten vollzogen. Alles war wie eine Collage und Montage in Raum und Zeit. Tatsächlich habe ich das Gefühl, dass ich diese Art von „räumlicher Zersplitterung“ und „zeitlicher Desynchronisation“ seit meiner frühen Kindheit erlebt habe. Ich wurde in einer kleinen Stadt in der Provinz Guandong geboren, wo alte Überzeugungen und die neuesten technologischen Geräte Teil unseres täglichen Lebens waren. Damals, und heute noch mehr, schienen die vormoderne, moderne und postmoderne Lebensweise zu koexistieren. (4)
Betrachtung
Ursprünglich war ich auf der Suche nach Spuren von Weisheit und Philosophie des alten Chinas. In taoistischen Symbolen konnte ich vereinzelt die Idee kontinuierlicher Übergänge und in Lebenseinstellungen die Auffassung einer Kosmologie erahnen, die auch unserer vorsokratischen Naturphilosophie zugrunde liegt: dass jenseits aller irdischen, wechselseitig sich bedingenden und ergänzenden Beziehungen von Anfang und Ende, von Zufall und Notwendigkeit, von Abschied und Neuanfang Transformationen und Veränderungen wichtige Merkmale der Natur sind; und dass die Idee der Leere verstanden als reines Potenzial zeitlos ist in ihrer Dauer, während, sobald etwas konkret in Erscheinung tritt, es dem Wandel, dem Werden und dem Vergehen unterliegt. Doch Natur und Umwelt werden mehr und mehr vom Menschen geschaffen, angetrieben von der homogenisierenden Kraft von Wissenschaft, Technologie und dem globalen Markt; in China überlagert von einer zunehmenden Verwestlichung der Lebensweise. Einer Lebensweise, deren prekäre Seiten auf vielen Gebieten unseren eigenen Zugang zur Welt spiegeln.
Nach meiner letzten Reise kam ich mit dem Gedanken zurück, dass unsere Herausforderungen darin bestehen, wie wir mit unserer Zerbrechlichkeit und Sterblichkeit umgehen und wie mit unserem Vermögen, Bedeutungen zu schaffen. Wo sonst als in Mythen, Legenden und Bildern finden unsere Menschheitserfahrungen ihren lebendigen Ausdruck.
In der traditionellen chinesischen Kultur sind die Menschen nicht die Beherrscher der Welt, sondern ein Teil von ihr. Bedeutende Gelehrte wie Konfuzius betonen, dass Menschen wie Tiere werden müssen, da sie das Bescheidene suchen und Tiere sehr bescheiden sind. Wir vergessen leicht unseren bescheidenen animalischen Teil […] ob es ein Hase oder ein Affe oder ein Pferd ist, wenn man es anblickt, blickt man in einen Spiegel. (5)
Bei der Zusammenstellung meiner Aufnahmen haben sich entsprechend der Auswahl, Rahmung und Sequenz diese nochmals neu geordnet. Wobei das Rätsel der Sichtbarkeit nicht in Bildern gelöst, sondern verdoppelt wird. Was wir sehen ist selbst unsichtbar, ein Spiel mit der Zeit. Und ein Spiegel unserer selbst. Was vom Verlorenen bleibt, ist das Bild.
Zur Legende vom Mondhasen
Der Hase, das Mondtier, gilt in vielen Kulturen als Zeichen von Fruchtbarkeit, Vitalität und Begehren. Als christliches Symbol steht er für Opfer und Auferstehung, im Buddhismus für Bescheidenheit und Wiedergeburt. In der altchinesischen Kultur versinnbildlicht der Mondhase den Wandel gemäß unserer Zeiterfahrung als Dauer im Wechsel, als das Beständige. Solange wir die Legende um den Hasen in all seinen Facetten im Spiegel anderer Kulturen wiedererkennen, bleibt sie lebendig. Aus Leben entsteht Leben, darin besteht der Wandel.
©Rosemarie Zens, in: Moon Rabbit – The Chinese Journey, Heidelberg 2020
1 Max Frisch, Bin oder die Reise nach Peking (1944), 5. Aufl., Frankfurt a. M.1962, S. 38
2 Ebd., S. 22 f.
3 Ebd., S. 36 f.
4 Chen Qiufan, „Waste is Changing Our Society and Living“, Interview von Allesandro Scarano (17.05.2019) in: domus online, https://www.domusweb.it/en/opinion/2019/05/17/chen-qiufan-waste-is-changing-our-society-and-living.html (abgerufen am 27.11.2019)
5 Shao Fan, Interview von Kathleen Bühler, in: Chinese Whispers. Neue Kunst aus der Sigg Collection, Ausst.-Kat. Kunstmuseum Bern, München 2016, S. 50–55
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