Das Tier – Neue Sirene 8
GedichteI?Wieviel Tier in uns? Daß es eine Stimme erhielte damit?Es nicht verwechselt werde als lammfromm ruhig ergeben?Um seine Schelle bittend. Hat es doch einen stilleren Instinkt?Als der gute Hirte, der falsche Prophet. Am Reißbrett designed?Zu leben unter das Mikroskop gebracht zur Serienreife ?In Ställen, Käfigen und Labors: Pharmafabriken?Organbanken, Ersatzteillager.???II?Klone im Schafspelz. Eingestampfte Kadaver, Fischmehl?Für die Pflanzenfresser: aufgezwungener Kannibalismus?Rächt sich schwammartig. Hirnerweichung, Tollwut, Delirium.?Dann lieber zu Stäbchen gepresst das Heu für das Wundertier?Ohne Hammel mit drei Müttern. Eineinhalbeiiger Doppelgänger?Abziehbild neunundneunzig-prozentig und?Erstes vaterloses Säugetier.
III?FÜR DIE VERBRAUCHERKETTEN. Die Massentierhaltung
Mit den erwünschten Fleisch- und Wolleigenschaften
Ist dynamisch zu lösen. Die Aktien steigen
Um sechzehn Prozent. Der Transfer mit Erfolg ausgeführt bei
Minus hundertsechsundneunzig Grad ist die Spender- und Eizelle
Gelagert, beliebig kopierbar. Zellmaterial: die Währung der Zukunft.
Programmiert ohne Zeugungskette. Nach Maß. Der Selektionsdruck
Erhöht, mit feiner Mikrokanüle haargenau die Eizelle entkernt,
Zwischen elektrischen Drähten mit Lötkolben fusioniert
Ausgesetzt unter drei Volt Spannung.
Verschmolzen nach Fehlversuchen
Ausgetragen das Tier.
IV?WIEVIEL ANGST IN UNS? Wie viel Schweineherz?Und Rinderzunge. Weggeworfen die befruchteten Eizellen vernichtet.?Überbevölkerung. Adieu, schöne alte Welt! Gefangen?In der Resistenzfalle. Die Mikroben proben den Aufstand?Machen die Rechnung ohne den Wirt. Grenzen sind längst?Überschritten, überhaupt alles was möglich ist.?Unterdessen verlassen Hausstaubmilben zehnfach vergrößert??Die Labors durch Türspalten und Fensterritzen, verschleppen?Sporen in die dünnen Zellmembranen, besetzen die?Mitochondrien lassen zurück schnell wachsende patentierte?Weiße Mäuse mit vermenschlichtem Blut. Hirngespinste?Gnome und Chimären. Eine Dingwelt nur aufgeladen mit?Und ohne Bedeutung. Während das freie Tier, Urbild und Abbild?Seinen Untergang stets hinter sich hat.
Zukunftssüchtig
Zu den Gedichten und der Prosa Zukunftssüchtig, Der gläserne Mensch, Klone im Schafspelz, Wie viel Angst in uns, Für die Verbraucherketten
Bettina Hohoff, Neue Sirene 8, München 1998
Unter dem Titel „zukunftssüchtig“ behandelt Rosemarie Zens in ihren zeit- und wissenschaftskritischen Gedichten und ihrer Kurzprosa Themen, sei es nun „Der gläserne Mensch“ oder das „Klonen“, die uns heute syndromhaft als ebenso neue wie zukunftsweisende Fragen gestellt sind. Dass Literatur ihre Aktualität nicht unbedingt durch die Wahl aktueller Themen gewinnt, ist keine Neuigkeit. Ebenso wenig jedoch, dass in gelungenen poetischen Ansätzen, wie bei der von der Biologie herkommenden Autorin Zens, gerade die spezifische Artikulation aktueller Themenbereiche das Profil eigener literarischer Qualität hervortreten lassen.
in: Neue Sirene 8, München 1998
15. Juni 1998