Poesie und Natur. Im Gespräch
mit Rosemarie Zens, in: „Hidden Patterns“
Die Unmittelbarkeit, aus der heraus unsere Sinne Bilder entstehen lassen, wird in dem Essay „Das geeichte Alphabet“ als „Die erste Natur” bezeichnet. Welche Bildmotive sind gemeint?
Wir denken an die konkreten Bilder wie Baum und Blatt und auch an Mandelbrots Apfelmännchen. Letzteres, das Selbstähnlicheiten von abstrakten Objekten in fraktalen Strukturen bezeichnet, trifft den Kern unseres Erkenntnisinteresses. Es stellt beispielhaft den Schnittpunkt dar zwischen unserem Wahrnehmungsvermögen und unserer Einbildungskraft, d.h. die Verbindung zwischen Sinneseindruck und Bildfindung, die der ersten und zweiten Natur unseres Weltzugangs zugrunde liegen.
Gibt es eine dritte Natur? Wie viele Naturen gibt es?
Es gibt verschiedene Weisen Metaphern zu bilden. Deshalb liegt es nahe, unser Sprachvermögen ins Zentrum der Betrachtung zu stellen. Hier kann der Vergleich zwischen den beiden Kulturen, zwischen den Naturwissenschaften und der Dichtung hilfreich sein, um die jeweiligen Grenzen, Schnittmengen und Eigenarten deutlicher zu erfassen. Die Beziehungen zwischen Naturwissenschaft und Dichtung sind seit Beginn in Philosophie, Poetik und Wissenschaft Gegenstand von Untersuchungen und Diskussionen.
Hat die heutige Zeit neue Einsichten hinzugewonnen?
→ weiterlesen
Naturwissenschaftler arbeiten über reproduzierbare Experimente, die so exakt wie möglich sein sollen. Dichter begegnen der Welt mit ihrer Einbildungskraft. Während der poetischen Sprache Bild, Klang, Rhythmus und Melodie eigen sind, stehen dem Naturwissenschaftler Beschreibungen, Zahlentabellen, Grafiken und Zeichengefüge zur Verfügung. Auf beide Kulturen lässt sich Wittgensteins Satz anwenden: Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt. Es gibt kein ‘besser‘, sondern ein ‘anders‘ der Zugangsweise zur Welterfahrung.
Im Essay “Das geeichte Alphabet“ wird der Mathematiker Poincaré zitiert, der von einer
”tieferliegenden Schönheit“ spricht, “die aus der harmonischen Ordnung der einzelnen Teile kommt und die die reine Intelligenz begreifen kann.” Wie ist das zu verstehen?
Die Annahme, einer harmonischen Ordnung zu entsprechen, beruhigt unsere Seele. Letztlich richtet sich unser ganzes Streben darauf, mit all unseren Sinnen die erlebten Erfahrungen in Erkenntnis zu überführen. Schopenhauer spricht von der Tätigkeit der Dichter, die … “hervorgerufen durch Naturschönheiten”… “den heitern Morgen, den schönen Abend, die stille Mondnacht besingen“ und sieht den Dichter als ”das reine Subjekt des Erkennens.“ Er befindet dies als eine ”Erhebung des Menschen über sich selbst.” Wir suchen den Blick zu lenken auf die existentielle Realität des Menschen, der trotz seiner Teilhabe an Natur und Welt einen Ausgleich sucht zu seiner Vereinzelung.
In vielen Gedichten im Gedichtband ”Vom Gesetz der Währung” kommt eine fast mythische Naturverbundenheit zur Sprache. Woher kommen die auffällig vielen Begriffe aus Geologie und Physik?
Um neues Wissen, auch aus den Naturwissenschaften zu integrieren, setzen wir in der Dichtung die ”Arbeit am Mythos” fort. Neue Sprachschöpfungen stellen den Bezug zur Gegenwart her, knüpfen an die Tradition an und modifizieren sie zugleich. Über das, was sich dem individuellen und kollektiven Gedächtnis eingeschrieben hat und weiterhin einschreibt, kommen wir den anthropologischen und kosmologischen Gegebenheiten am nächsten.
Wie ist nun letztlich das Verhältnis zwischen den Naturwissenschaften und der Dichtung zu bestimmen?
Durch unser Eingebundensein in Natur und Kultur befinden wir uns unentwegt in Auseinandersetzung mit unserer Umwelt. Aus der Erfahrung, dass nicht nur wir fragil sind, sondern auch die Erde, die ihren eigenen Gesetzen folgt, resultiert Mitgefühl mit allem Kreatürlichen und Ehrfurcht gegenüber unserem Planeten. Den Darstellungen der naturwissenschaftlichen Forschung und den Spracherfindungen der Dichtung liegen Beobachtung und Verständnissuche zugrunde. In diesem Sinne sind beide Zugangsweisen zu produktiver Schöpfung fähig: die Naturwissenschaften, die ihre Neugier und Kraft aus dem Wissen um naturgesetzliche Grenzen bezieht und die Dichtung mit ihrem Möglichkeitssinn.
Rosemarie Zens, in: Hidden Patterns, Edition WortOrt, Berlin 2011 (gekürzte Fassung)
(1) Rosemarie Zens, Vom Gesetz der Währung, Gedichtzyklus, Rimbaud Verlag, Aachen 2009
(2) Rosemarie Zens, Das geeichte Alphabet, in: Signum, Blätter für Literatur und Kritik, Dresden 2010