Herzattacke – 30 Jahre – 100 Ausgaben
Lesung von Gedichten und Prosatexten gemeinsam mit anderen Autoren aus der aktuellen Literatur- und Kunstzeitschrift Herzattacke, anläßlich der 100. Ausgabe und des 30-jährigen Jubiläums der gleichnamigen Künstlergruppe.
VOLKSBÜHNE – Roter Salon
Linienstraße 22, 10178 Berlin
Freitag, 19. Januar 2018
Beginn: 20.00 Uhr
Eintritt 8.- €, ermäßigt 6.- €
Drei Gedichte im Jubiläumsheft
Aufbruch
I
Jazz beim Laubenpieper
Eintritt frei ‚Whales Forever’
Ehrensache: Spenden für die Mission
‚Sea Shepherd’ und ‘Seute Deern’
Angedockt entlang der Ostseite
Des Neuen Hafens. Jäger und Gejagte
Dampfschlepper und Fischkutter
Bis Columbuskaje: leere Container
Von der Schleuse aus nach Westen
Damals. Was hätten wir alles bewegen
Können! Noch einmal an Bord
Über den Atlantik
Umkehren mit den Lachmöwen
Zum Land zurück
Erneut auf die Boote schleichen
Die Seeventile öffnen
Den Kampf ansagen
Den Feinden des Meeres
II
War nicht Lemuria das Mutterland
Untergegangen im Wasser
Als Feuer vom Himmel fiel
Und die Wale – dem Sirius entsprungen –
Untergetaucht
Auf der Suche nach Land?
© Rosemarie Zens
(Bremerhaven)
Graffiti
I
Steine, nichts als Steine, zerstreut und abgewetzt kreischt der Papagei ‚Seneca’ aus dem Ristorante. Angekettet, Sklave neben Stuhl und Tisch. Autoblech im Schatten des Ölbaums lästige Gäste, träge Katzen und Händler. Gedeckt von der mobilen Polizeistation.
Im Auge behalten: Richtungsänderungen. Hochfrisiert röhren die Vespas mit Atemschutzfilter und Helm an vorderster Front. Sich behaupten vor rechts und links einen Sommer lang.
II
Woher der Taubendreck vom Himmel fiel? Niemand hat es gesehen. Ein Gruß von Astarte für die Seelenvögel. Spiegelwand und Brunnenwasser. Giulio und Giacinta warten, wer heute den Hanswurst macht im Café Greco. Doppelt verkehrt im Glas voller Schwindel.
Tell Laura I love her, tell Laura I need her. Auf diese Weise den Tag beginnen. Die Traubenernte einbringen und Marios Stimme hören sein ‘Recondita armonia’ außerhalb von Sant’Andrea della Valle war sein Gott der nächste Tourist, ein Pilger vor der Madonna in San Agostino.
III
Statuen und Museumsstücke hinter dem Wandtabernakel der Thronsessel in Mosaik gesetzt: ‘Märtyr’. Auf der Rücklehne auch dieses Kreuz. Achse des Universums jener Baum. Baldachin mit zwölf Tauben, Brot und Wein.
Tiefer unter der Kirche, unter dem Wohnhaus. Ein Dunkel, das nicht finster war. Zugeschüttet. Ausgegraben. Sitzgelegenheiten in Nischen darüber Stuck und Sterne am Gewölbe.
IV
Aus dem Grottenstein geboren erscheint Gott Mithras. Den Mondstier zu töten. Beauftragt von Helios. Fruchtbar sei es für die Erde. Stierblut im Zeitenwechsel. Erneut mit erhobener Flamme versenken die Genien das Licht.
Beim Siegesgelage mit Ferkel und Lamm – wenn köstlicher Wein reichlich fließet – erinnert das Rad des Gefährts auf den Fresken an die Reise zum Himmel.
V
Unterirdisch an feuchten Wänden Farbengraffiti a Petro e Paolo beim Eingang der Katakomben der betende Mensch mit erhobenen Armen:
So gewiss ist die Liebe, wenn einer den anderen erhöht und kein Richtergott herrscht über den Satzbau und den Stein für die Große Mutter. Überbaut mit dem Dom auf dem siebenten Hügel. Weder Papst zu erkennen, noch Päpstin. Die schwarze Kybele allein mit dem Palmenzweig.
Gezeichnet über Senecas Worte und dessen Blick von der Campagna aus
auf die Gemeinplätze hin zur Stadt. Der leere Marmorthron. Auf dem Relief entsteigt die weiße Göttin dem Meer.
© Rosemarie Zens
( Rom)
Palimpsest
I
Vor Dreikönig
Das Orakel befragen
Die Windmaschine ein Palast
Auf Sumpf und Knochen
Mit weißroten Bändern
Die Weihnachtbäume
Coca Cola, Bisiness & Co
Auf dem Newski Prospekt.
Doch was wird sein
Nach Frost und Schmelze?
Kinder kämpfen gegen
Fußtritte und Tränen
Aus Schädelbechern
Will niemand mehr trinken.
Aufgehört zu warten habe der Mann
Sich die Augen verletzt um alle
Blinden der Welt zu sehen
Dort lacht niemand
Niemand weint
Dem kranken Gesetz nach
Ein glücklicher Mensch
Der Idiot sein Roman.
II
Im Atelier an der Mojka
In der Swenigorodskaje
Der Blutfleck des Königs
Mehrmals übermalt
Auf der Leinwand ‚Elisabeth
Mit der schwangeren Maria‘
Ein Lichtstrahl
Über der Staffelei
Hat der Maler aus Lösungen
Ein Rätsel gemacht?
III
Wenn die Tage des nachts
Ohne Dunkel die Zarenschlösser
Wie Schatten in Licht getaucht
Kehren wir zurück auf die Insel Wassili
Verbrannte Schriften
Herunterhängende Stromkabel
An den Tapeten Pilzschwamm
Der Rest verfault im Regen.
Vor dem Friedhof
Die alte Frau mit dem Kopftuch
Und der lila Jacke
Neben ihr der Sohn auf dem Schoß
Das Birkengrün zum Verkauf
Flieder für die Gräber, neue Schuhe
Braucht das Kind. Die Heiligen dürfen
Nicht zu viel bemüht werden.
Vom Teufel komme alles Unglück
Vom Befragen des Orakels
Dem Zerstören der Ikonen
Vom Verfall der Gotteshäuser
Erhalten ist Lenin in Gips
Und der Metropolit Pjotr schwarz
Gefärbt von Kerzenruß
Mehrmals übermalt.
Darunter die Heilige Xenia
Um ihre Schultern gelegt den Mantel
’Trennung ist nur eine Täuschung
Mein Schatten auf deinen Mauern, mein Bild‘
Der klagenden Mutter antwortet sie:
Dein Kleid in Indigo, wir werden es nicht
Vergessen. Dich. – Der Tod. Ein Nonsense
Aber das Leben berät sich mit ihm.
© Rosemarie Zens
( St. Petersburg )
07. Januar 2018