As the Eye Wanders. Turning Time Around

 

Given light back to shadows

Die Fotografie ist zu einer der universellsten aller Sprachen geworden. Viele Künstler, Philosophen und Wissenschaftler aus Vergangenheit und Gegenwart sind sich darin einig, dass wir vor allem in Bildern leben und denken. Sie verorten unser Weltverständnis. Fotografie als die uns vertraut gewordene Bildsprache erweist sich als besonders geeignet, Stimmungen, Gefühle und komplexe Erfahrungen auszudrücken. Angesichts der Entwicklung bildgebender Technologien, die Abbildungen zu einer Art Hyper-Realität ermöglicht, ist es umso dringlicher unsere Beziehung zu Bildern neu zu verorten.

On passages long before

Beim Fotografieren suchen wir nach einem Standpunkt, schreibt Vilém Flusser, von dem aus ein anderer die Welt so sehen kann, wie wir sie sehen. Und wir wünschen uns jemanden da zu haben, der mit seinen Augen sieht. Das gilt auch, wenn wir Bildserien zusammenstellen und uns auf etwas beziehen, das John Berger “Bricolage der Seele“ nennt, die Schaffung eines Werkes aus einer Vielzahl von scheinbar zufälligen Dingen. Wir folgen der Bewegung unserer Augen, geführt vom Licht, das Linien, Farben und Tönung Gewicht verleiht.


This is not a dream

Fotografie erschafft keine Bilder, vielmehr findet sie diese. Sie ist mehr als Roland Barthes‘ Definition des Noema, bloße Denkfigur. Sie ist Formfindung zwischen Realität und Vergangenheit in ständiger Erweiterung dessen, was wir als Realität begreifen. Aufführung, Vorführung, Darbietung und Auftritte als das wahrzunehmen was sie sind: Teil der Realität aber keine alternativen Fakten mit Absichten zur Manipulation und leicht zu verwechseln, eher angelehnt an subversive Formen des Surrealismus oder an Spiele auf der Bühne des Lebens. So dass wir beim genauen Erforschen von Bildern in manchen Einzelheiten und bestimmten Augenblicken etwas finden können, das verloren oder vergessen war. Dass wir die ausschnitthaft gefassten Bilder als Verweis nehmen auf archetypische Szenen aus einer lang zurückliegenden Zeit, die plötzlich wieder vertraut werden, bis sie sich auf rätselhafte Weise erneut in ein Geheimnis verwandeln.

 

Turning time around

In den meisten Bildserien taucht die Farbe Blau auf in vielen Tönungen als ein gemeinsam Verbindendes von Erfahrungen und Eindrücken. Von allen Farben erweist sich die Farbe Blau, die in besonderem Maße von Umgebung und Bedingungen abhängig ist, als volatil und radikal: kulturelle Zuschreibungen nehmen Bezug zu Himmel, Tod und Jenseits und zu Unschuld, Verzweiflung und Hoffnung.

I have seen the nature of trees at last

Auf verschiedenen Ebenen sind Erinnerung und Wahrnehmung miteinander verflochten. Wahrnehmung spiegelt die Prämissen der Außenwelt, die Erinnerung die Innenwelt. Fotografie, zentrales Medium und Metapher der Vermittlung, verankert und kommuniziert zwischen beiden Welten und ermöglicht unendliche Assoziationsketten für das Auge des Fotografen und die Phantasie des Betrachters in einem einzelnen Bild oder Bildserien zu erkennen, wie Zeit in Rhythmus sich verwandelt.

Blue notes in many keys

Das Wahrnehmen fragmentierter Welten und die Technik der Fotografie, Augenblicksmomente festzuhalten entsprechen sich auf kongeniale Weise. Während beim Fotografieren Gefühle der Dringlichkeit und der Wunsch nach Zugehörigkeit aufleben, finden diese Gestalt durch Distanznahme und Muster, die stabilisieren, aber nicht starr sind. Eine ihrer zentralen Rollen nimmt die Fotografie ein, wenn sie gesellschaftspolitische Themen und existenzielle Anliegen zum Ausdruck bringt. Mithilfe fotografisch-optischer Mittel ebenso wie durch visuelle Metaphern und poetische Zuschreibungen verortet und vertieft sie unser Verständnis der Welt. Edition und Reihung visuell kohärenter Kompositionen können Momente echter Evidenz auslösen und so überraschende Sichtweisen eröffnen auch darauf, wie Bilder durch Bilder Resonanz finden.

 

In: Rosemarie Zens, As the Eye Wanders, Berlin 2017