Kinder können ihr Erleben auf elementare Weise zum Ausdruck bringen, besonders wenn sie als Darsteller szenisch-theatralischer Dramen auftreten. Dann erscheinen sie wie selbsternannte Regisseure oder sie sehen von außen als aufmerksame Beobachter zu. Mitunter schauen sie auch wie selbstvergessen, in einer Art von Bei-Sich- oder Außer-Sich-Sein, als ob sie sich im Austausch mit der sie umgebenden Welt auf diese einstimmen und ihren eigenen Platz darin zu bestimmen suchen. Manchmal verstecken sie sich hinter oder zwischen den Dingen, um sich zu sammeln und die Zwischenräume der verschiedenen Erscheinungen des Unsichtbaren und Sichtbaren mit dem inneren Auge zu erkunden.
Auf den Bildern im Künstlerbuch Carousel of Time (1) sehen wir ein Mädchen mit einer selbstgebastelten Maske und einen Jungen als Höhlenforscher, die beide bewusst oder unbewusst den Betrachter außen vorlassen. Ist es ein Schutzsuchen vor einer möglichen Bedrohung oder Theaterspiel oder reine Neugierde? In Erinnerung an unser eigenes Kindsein erkennen wir die Gefühle von Vereinzelung und Verlorenheit, von Furcht und Verlust und von Trauer und Zorn, das ganze Spektrum der Emotionen bis zum Ausgleich durch die Eroberung von Raum und Zeit mithilfe von Bewegung, Spiel und Geschichtenerfinden.
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Wenn wir Kindern in Familie, Natur oder Stadtlandschaften begegnen, nehmen wir Szenen natürlicher Lebendigkeit wahr. In scheinbar surreale Fantasiewelten tauchen wir ein, wenn wir mit ihnen in Zoos, Aquarien oder Naturkundemuseen Tiere betrachten oder die in Dioramen ausgestellten Artefakte wie die im New Yorker American Museum of Natural History.
Durch Bildausschnitt und Rahmung werden in Carousel of Time die Fotografien zur eigenen Schaubühne. Mit den Augen der Kinder auf die Welt zu sehen, heißt konfrontiert zu werden mit dem Großen und dem Kleinen. Staunend wie sie folgen wir ihren Blicken auf das unheimlich „Lebendige“ in den statischen Darstellungen der Dioramen und im Kontrast dazu auf die Bewegungen spielender Kinder. Auf Einzel- und Doppelseiten sind ausgestopfte Tiere in ihrem Habitat, in naturalistischen Landschaftskulissen zu besichtigen. Die erzählerischen Elemente bändigen und mildern diese zwiespältigen Erscheinungen. Geradeso wie der auf einer der linken Buchseiten abgebildete und durch den Ausschnitt überdimensional wirkende Bär. Die Szene einer eisigen Berglandschaft, vor der das Tier platziert ist, wird weitergereicht auf die rechte Buchseite an eine Strandszene mit einer Gruppe von Kindern. Gebirge und Meer ergänzen sich zu einem Geschichten erzählenden Tableau. Die vergrößerten Krallen an der Tatze des Bärs fallen ins Auge und werden konterkariert von den vom Wind bewegten langen Haaren eines barfüßigen Mädchens, das mit ihren Zehen eigene Spuren in den Sand schreibt.
Dieses Geflecht von Wiederholungen, Überlagerungen und Verschränkungen von Formen und Objekten scheint ebenfalls in einer anderen szenischen Geste auf, in der ausschnitthaft vergrößerte und geschwungen ausladende Vogelhälse neben dem ausgestreckt gebeugten Arm und der offenen Kinderhand eines Jungen zu sehen sind. Eine Kinderhand, die im vorsichtigen Auffangen eines winzigen Käfers diesen vor dem Ertrinken zu retten sucht.
Ein weiteres Element dieses Künstlerbuches fügt sich durch das Aufblättern mehrerer horizontal aufgeschnittener Seiten, die wechsel- und wahlweise zusätzliche Bildkompositionen ermöglichen. Einigen von diesen sind Bildunterschriften mitgegeben von Zeilen aus Lou Reeds Songtext Hang on to Your Emotions. Unsere Augen wandern von einem Details zum anderen, suchen sich einzulassen auf Doppelbödiges, auf Durchblicke in Räume und Spiegelungen von Phänomenen in Natur und Technik, losgelöst aus ihrem ursprünglichen Kontext in neue Zusammenhänge gestellt von Farben und Formen, von Naturwundern neben artifiziell Menschengemachtem.
So wie die Kunstform Diorama mit Wirklichkeit und Täuschung, Authentizität und Scheinrealität spielt, gehören diese Motive auch zum Medium der Fotografie mit seinen optischen, mimetischen Mitteln und Bildkombinationen. Wenn wir wie auf den Bildern den Augen der Kinder folgen, berührt uns die Unmittelbarkeit und ihr Zugewandtsein, die Welt mit einem geradeso fotografischen Blick für sich zusammenzusetzen und sich zu eigen zu machen. Vielleicht bringen diese vermeintlich zufälligen Ausschnitte die wirklichen Bilder hervor.
(1) Rosemarie Zens, Carousel of Time, Artist Book, Berlin 2015
© Rosemarie Zens 2024