Das fünfte Element. Ein Organon

Zu Ernst Meisters Gedicht „Die alte Sonne“

Die alte Sonne
rührt sich nicht
von der Stelle.

Wir
in dem
dämmrigen Umschwung
leben
die Furcht oder
die schwere Freude.

Liebe –
Verlaß und Verlassen,

von ihr
haben wir gewusst
auf dem Trabanten,

eh alles
vorbei.

(1)

Zwischen der Sonne und ihrem Trabanten, der Erde wird hier ein Universum aufgespannt, dessen Bedeutung von Unus und Versus ein uns Zugekehrtes, zugleich einen uns zugewandten und uns gemessen an dem gesamten Universum nahestehenden Raum umfasst. Diesem nah und fern zugleich leben wir in Furcht und Freude gegenüber der Unermesslichkeit des Kosmos nicht nur mit düster-dunklem Blick im Wechsel von der Abend- zur Morgendämmerung, sondern auch im Gewahrwerden und „Aufklaren“ von Gedanken über unser Verhältnis zur Welt.

Naheliegend wäre es, Meisters Interesse an Urbildern aufnehmend, die ‚alte Sonne‘ mythisch als Sinnbild für die Urkraft, den Urgrund, das Sein zu verstehen. Mit unseren heutigen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen aber wäre zu fragen, ob dieses Urbild für das Selbstverständnis des Menschen noch trägt. Denn unser Wissen um die Existenz ferner Galaxien macht es unmöglich, die Sonne weiterhin als Zentrum des Weltalls anzusehen.

Sie ist wohl das Zentralgestirn unseres Sonnensystems, aber nur ein Stern unter vielen in unserer Galaxis, der Milchstraße, einem flachen, scheibchenförmigen Gebilde. Die Struktur der Milchstraße ist spiralförmig, die Masse konzentriert sich zu einem Zentrum und die gesamte Milchstraße rotiert um dieses Zentrum. Auch unser Sonnensystem, das eher im Randbereich der Milchstraße liegt, wandert um dieses Zentrum herum. Darüber hinaus gilt als wahrscheinlich, dass die Erde selbst zu einem Staubkorn und unbedeutenden Planeten eines verlorenen Sterns werden wird in von unzähligen Konstellationen charakterisierten Universen. Und zudem wissen wir seit 1998 (2), dass Menschen, Sterne und Galaxien aus nur vier Prozent überhaupt der Masse des Universums bestehen.

Auf der mythischen Ebene dagegen beschreiben wir die Sonne und deren Urkraft phänomenologisch verstanden als das, was nicht quantifizierbar ist, weil ursprünglich und selbst als Grund jenseitig von Raum und Zeit angesehen wird. Im Zustand der endlichen Dichte von innen nach außen in sich gekehrt im zyklischen Universum ohne Anfang und Ende, erscheint es uns dennoch, als bewege die Sonne sich nicht. Die alte Sonne / rührt sich nicht / von der Stelle, entsprechend der aristotelischen Philosophie, die einen Beweger postuliert, der selbst bewegungslos ist.

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