Das Meer erfindet nichts. The Sea Remembers PDF ↓
Eine Landschaft lesen, sagt Roland Barthes, heißt sie zunächst mit dem Körper und dem Gedächtnis wahrnehmen – mit dem Gedächtnis des Körpers. Deshalb ist die Kindheit der beste Weg, um ein Land genau kennen zu lernen. Im Grunde gibt es nur ein Land: das Land der Kindheit.
Landschaft und Geschichte
Meine Fahrt in Richtung Nordosten folgt einem weiten Bogen nach Polen in den Ort Bad Polzin, der im Pass als Geburtsstadt vermerkt heute Połczyn Zdrój heißt. Keine bildhafte Erinnerung knüpft sich an ihn.
Ein halbes Jahr war das Kind alt, als es im Kinderwagen den Platz teilte mit einer Aktentasche voller Zeugnissen, ein paar Fotografien, Brot, Speck und Tee für den Anfang. Und weiter? Nichts weiter. Es war eine schwere Zeit. Wir haben nach vorne geschaut, sagt die Mutter.
In der Ortsbestimmung durch die Herkunft muss aber doch eine Bedeutung verborgen sein! Etwas nicht ganz zufällig Zugefallenes wenigstens. Das Unbekannte, das Fremde laden die Gedanken daran gewichtig auf. Wo bist du geboren? fragen die Mitschüler. Dort, wo die Pollacken herkommen? Weißt schon, wie der Kohlenhändler Grabowski, der immer von seinem Nachbarn erzählt und redet, „sagt der Czerwinski zu mich.” Kenn’ ich nicht, gibt das Kind vor. Unwirsche Antwort. Grenzposten. Reiseverbot. Weiß-nicht-Lücke.
Es heißt, es gäbe ein Zellgedächtnis, das Zellwasser sei aufgeladen mit vielsagenden Kräften. Ausgemessen und kartographiert sollen darin weit zurückliegende Gedächtnisspuren aufgehoben sein, die sich erneut den Weg zu körperlich Erlebtem suchen. Auch wenn durch den Schleier des nie Besessenen und doch Verlorenen etwas aufgespürt wird, das vielleicht eher einer Erfindung gleicht? Wie ist dem Gedächtnis überhaupt zu trauen?
Das Meer dagegen hält Erinnerungen fest ohne etwas zu erfinden. Es bewegt Tag um Tag, Jahr um Jahr die Landzunge, die seinen Saum prägt. Deshalb die Fahrt ans Meer. Die Ostsee. Das Beinahe-Binnen-Wasser zwischen Skandinavien, Russland, dem Baltikum, Polen, Deutschland und Dänemark. Kaum Ebbe und Flut. Von Swinemünde (Świnoujście) entlang des Stettiner Haffs (Zalew Szczeciński) nach Stettin (Szczecin) über Schivelbein (Świdwin), Bad Polzin und weiter nach Kolberg (Kołobrzeg).
Mutter sagt, man soll nicht sprechen, wie man sich fühlt, sondern wie man sich erinnert. Sie hat sich aber nicht daran gehalten. Alles werde sowieso so sein, wie es sein soll, sagt sie wiederholt, die Sonne bringe es an den Tag. Was soll das Kind damit anfangen? Beunruhigt von der mythischen Übermacht des Himmelsgestirns.
In Albert von Chamissos Gedicht lese ich später über einen heimtückischen Judenmord.
Die Raben ziehen krächzend zumal
Nach dem Hochgericht, zu halten ihr Mahl
Wen flechten sie aufs Rad zur Stund’?
Was hat er gethan? Wie ward es kund?
Die Sonne bracht es an den Tag.
Gedichte von Mörike, Goethe, Eichendorff, Fontane und Storm wurden im Schulunterricht gelesen. Volkslieder nur wenige gesungen, einige prägten sich während der Autofahrten mit dem Vater ein. Ein paar Jahre später gab es im Radio Country, Folk und Rock’n Roll. Elvis und Bill Haley – „der mit dem Hüftschwung und der mit der Schmalzlocke” – diese hielten die Eltern für eine vorübergehende Marotte. In der Naturverbundenheit allerdings gab es einen gemeinsamen Nenner. Manchmal glänzten Mutters Augen, wenn sie davon erzählte, wie sie sich frei geschwommen habe von den strengen Verboten ihrer Mutter, bei der Erinnerung an die heimlichen Badeausflüge zum Meer und zu den Seen, an den Buchholzsee (Bukowiec).
Vater soll gern gelacht haben. Vor dem Krieg. Ein Abenteurer voller Reiselust, der barocke und romantische Landschaften liebt. So wie er aus seiner österreichischen Heimat die Aufzeichnungen Hofmannsthals in sich getragen hat: Alles Gelebte ist in der Erinnerung von einer Sonderbarkeit, die dem Traum nahe kommt; seine Wiederannäherung zieht an und stößt ab – in ihr mischt sich Tod und Leben wie süßes und salziges Wasser…
Seine Geburtsstadt ist Karlsbad (Karlovy Vary). Oberhalb der Mündung der Tepl (Teplá) an der Eger, die in die Elbe mündet bei Theresienstadt (Terezín). Mitten im Böhmerwald. Nicht weit entfernt vom Riesengebirge. Soll ich mich von Rübezahl beschützt fühlen oder mich vor ihm fürchten? Vor seiner großen Nase, den starken Armen? Es gibt ein Foto, schwarz auf weiß, da steht Vater mit seiner Laute neben einem anderen Musikanten. Er sei während der Studentenzeit durch die Wälder gezogen, erzählt Mutter. Zugeneigt den sozialromantischen Ideen der Wandervogel-Bewegung mit den Liedern des Zupfgeigenhansl in der Tasche. Aufbruch der Jugend. Befreiung vom bürgerlichen Zopf. Diese Geschichte gefällt mir. Jahre später begleitet mich beim Musizieren der Vater mit seiner Gitarre. Seine Finger bewegen die Saiten des Instruments ungelenk. Das durch eine Kugel steif geschossene linke Handgelenk rudert bizarr und merkwürdig. Die Stimme ist belegt, verhalten irgendwie.
Zwei Kugeln stecken in seinem Rücken, zu lebensgefährlich sie herauszuoperieren. Bis 1943 war er uk (unabkömmlich) gestellt, zuständig für die Errichtung und Wiederinstandsetzung der Luftlandeplätze von Kolberg bis Warschau. Sein kurzer Einsatz als Soldat an der Ostfront mit einunddreißig Jahren endete mit einem Bauchschuss. Er trug lange eine Eisenplatte über der Bauchdecke und ein Leben lang den Schwerkriegsverwundeten Ausweis in seiner Brieftasche.
In seinem sechsundachtzigsten Lebensjahr starb er an den Operationsfolgen zur Behebung eines Leistenbruchs – Folgen seiner Kriegsverletzung. Im Krankenbett fieberte er von der Landung russischer Einheiten per Hubschrauber. Aus seinen Augen schaute schon der Schmerz der unbeschränkten Freiheit. Dann wieder lächelte er still in sich hinein. Und manchmal ein Aufbäumen, der Hunger nach Leben. Da schien er an einen guten Ausgang zu glauben. Und bis zuletzt sorgte er sich. Ich musste ihn freigeben.
Wie konnte er sich freuen, wenn er mich auf dem Gang des Krankenhauses erblickte, wenn ich immer näherkam und ihm Kastanien in seine Hände legte. So ein Glücksgefühl bei ihm zu sehen – das erinnerte mich an meine Kindertage.
Weiße Seiten ohne Linien das Wort Katastrophe
Mutter erzählt, wie sie im Wald mit dem Kind auf dem Arm und einem Koffer in der anderen Hand herumgeirrt sei und das abstruse Gefühl von Freiheit empfunden habe. Wie sie sich später zunächst gesträubt habe, Trinkgläser und die ganzen bürgerlichen Besitztümer nach und nach wieder anzuschaffen. Einfach grotesk hätte sie das Einkaufen empfunden; während Vater vom Braten phantasiert habe, in den er hineinbeißen würde, so dass der Saft an beiden Seiten seines Mundes herunterliefe.
In Mutters Nachlass später dieser kleine Notizblock. Auf weißen Seiten ohne Linien die flüssige Handschrift, abgerundete Zeichen. Und auf dem Umschlagdeckel ganz links am Rand unter dem Papierfirmennamen „Glockenpost”, notiert wie in einem Buchstabiertest das Wort „Katastrophe”, als wolle sie mit der griechischen Wortbedeutung von Verhängnis und Umkehr sich ihrer Geschichte vergewissern.
Aufgeschrieben fünfundvierzig Jahre nach den Ereignissen im März fünfundvierzig. Mit zweiundsiebzig Jahren, fünf Jahre vor ihrem Tod, berichtet sie von den Ereignissen, als sie siebenundzwanzig war.
Weihnachten 1944 waren wir noch alle zuhause bei meinen Eltern. Richard war von Kolberg gekommen. Mein Bruder Gerhard hatte ein paar Tage Urlaub als Soldat. Aber es herrschte gedrückte Stimmung trotz des Weihnachtsfestes, das Mutter immer so schön gestalten konnte mit Tannenbaum, viel Gebäck u. gutem Essen. Ostpreußische Flüchtlinge mit Pferdefuhrwerken zogen durch die Stadt u. wir überlegten, wo wir wohl hingehen sollten, wenn die Russen sich Pommern näherten. …
Als wir dann endlich in aller Frühe loszogen, … blieben erst mal die vollbeladenen Wagen im Morast stecken. Wieder Zeitverlust, bis die Wagen einzeln aus dem aufgeweichten Boden mühsam fahrbar gemacht waren. Als es nun doch losging, kam ein Postbote auf dem Fahrrad vom nächsten Dorf – nur wenige Kilometer entfernt. Er war entsetzt, dass wir noch nicht fort waren u. berichtete, dass die Russen bereits im nächsten Ort wären. Wir sahen im Morgengrauen bereits in der Entfernung den hellen Schein der brennenden Häuser von den nächstgelegenen Ortschaften, ein unheimliches Gefühl, schaffen wir es noch oder überrollt uns der Russe, das war unsere Angst. Vorher waren wir noch durch das Haus meiner Schwester Johanna gegangen. Alles musste stehen und liegen bleiben. Die schönen Möbel, die Wäsche – das gepflegte Haus – alles. So erging es unserer ganzen Familie. Im Haus meiner Eltern wohnen jetzt Polen. Die ganze Familie hatte alles verloren…
Wir fuhren Tag u. Nacht. Halt konnten wir nicht machen, weil der Russe so kurz hinter uns war. Oft wollten die Pferde nicht mehr und wir hatten nichts zu essen, nur das bisschen, was wir auf dem Wagen mitgenommen hatten…
Nachdem wir 3 Tage u. Nächte gefahren waren, kamen wir abends auf dem Marktplatz von Anklam an. Aus den Häusern kamen hilfsbereite Leute, um uns aufzunehmen. Ich kam zu einem jungen Ehepaar, hatte ein Bett oben auf dem Dachboden, aber es war warm u. zu essen bekam ich auch…
Am nächsten Morgen setzte der Treck seine Fahrt fort. Ich konnte unmöglich mit dem kranken Kind wieder auf dem kalten offenen Wagen mitfahren…
Da hatte der Mann einen Vorschlag. Er arbeitete auf dem Flugplatz von Anklam u. wusste, dass ein Lastwagen mit Anhänger am nächsten Morgen evakuierte Hamburger Kinder über Malchin nach Hamburg bringen sollte. Er würde es vermitteln, dass ich mitfahren durfte. Ich war selig…Also am nächsten Morgen brachte er mich im Dienstfahrzeug zum Flugplatz. Der Lastwagen stand schon dort u. einige Frauen mit Kindern waren auch schon da u. ein verwunderter junger Offizier, der auch mitwollte. Mein Gastgeber verhandelte mit den Leuten u. ich wurde mit Kinderwagen u. Kind aufgeladen. Ich bedankte mich bei meinem Gastgeber und die Fahrt ging los, aber nicht weit. Der Wagen wurde gestoppt, angehalten und alles sollte aussteigen, nur der Offizier durfte auf dem Wagen bleiben. Angeblich war der Lastwagen nur für evakuierte Kinder beschlagnahmt. Ich weigerte mich vom Lastwagen herunter zu gehen, hatte ich doch ein krankes Kind und wo sollte ich jetzt mitten in der Landschaft damit hin? Daraufhin wurde der Anhänger, auf dem mein einziger Koffer mit meiner wenigen Habe war, abgekoppelt
Hier hören die Aufzeichnungen auf. Irgendwie muss es aber weitergegangen sein.
Seit wir als Menschen von uns wissen, bereitet das arglose Auge die Landnahme vor. Entlang von Ufermündungen und Inselgebirgen. Was einräumen und was auswählen? Wie sich einrichten? Wo sich zuvor und zunächst einreihen? Auf der Jahres-Ringspule. Im unendlichen Gespräch zwischen Verdrängung und Verdichtung: wo sind wir da? Wo kommen wir her? Geschichtete Geschichten. Erzählte Erzählungen. Variationen von immer wieder ähnlichen Abfolgen. In nie auszuschöpfenden Deutungen. Vom zirkulären Erleben bis zur Einsicht in Unerklärliches.
Es gab die vielen Sonntage beim Pommerntreffen der Vertriebenenverbände. Das Kind langweilte sich. Die Nachforschungen zu den Schicksalen von vermissten Familienmitgliedern, Freunden und Bekannten ließen nach ein paar Jahren nach. Mit einiger Gewissheit konnte nun gesagt werden, unter welchen Umständen Großvater und Onkel erschossen worden waren. Was ungeklärt blieb – man beließ es dabei. Viele offizielle Papiere waren verloren gegangen. Für die Anträge zum Lastenausgleich hatten sich Zeugen gefunden.
Wie gerne hätte ich Mutter mitgenommen auf meine erste verspätete Reise in das Geburtsland. Wie gerne hätte ich sie erzählen hören vom Strand, den Dünen, Kiefern, Sand und Birken. Hätte gerne gewusst, welche Wege sie am liebsten gegangen war. Was sie mir hätte erzählen wollen von den Wolken, ihren Wünschen.
Ich habe sie nie gefragt, weil ich nicht wusste, wonach. Den Marktplatz, den Gutshof, das Schloss, die Marienkirche, das Wohnhaus in der Bismarckstraße hatte ich nicht vor Augen. Diese Bilder hatte sie vergraben. Ein Teil von ihr blieb mir fremd.
Die Überlagerung von Bildern
Erstaunlich die unaufhörliche Energie, die in Trümmer gesetzte Welt immer wieder neu aufzubauen. Schwere Körperarbeit. Schwierige Kopfarbeit. Wir sammeln, sortieren, tragen neu zusammen. Dokumentationen, Fotografie- und andere Bilderwelten aus Archiven. Die Überlagerung von Bildern. Die Verlagerung von geologischen Erdschichten. Die erzwungenen Migrationen von Völkern. Umsiedlung, Überführung, Vertreibung. Säuberungswellen. Die Staatenlosen und die Vaterlandslosen. Die Ausgeschlossenen, Rechtlosen, Vogelfreien, „Schädlinge”. In Europa die Migrationsströme aus Ost und Süd. Die Asylbewerber, Emigranten und Flüchtlinge. Die Kultur der Vermischungen, der Vieldeutigkeit und Vielsprachigkeit in Ost- und Mitteleuropa. Und heute die Stunde der modernen Nomaden in der globalen Welt: oft der Not gehorchend, mehr oder weniger anpassungsfähig und im besten Sinn neugierig emanzipatorisch, beweglich und inspirationsfreudig.
In der sich wandelnden Natur scheint nicht die Zukunft, sondern die Vergangenheit unendlich. Eine Vergangenheit, die wie das Universum unbegrenzt ist, aber einen Anfang hat? Wir haben gelernt dieses Paradox zu leben, insofern als die Zeit – wie wir sie empfinden und erfahren – den Raum zu fassen scheint und ihn durch diese Grenzziehung mit Kraft auflädt. Deshalb dieses Kreisen um den Anfangsort, an dem wir endlich das vertraut Fremde und die in uns wirkenden Kräfte zu erkennen hoffen.
Dagegen die Wanderdünen, die langsam vorrücken in einer bestimmten Windrichtung. Dies kann man messen. Ihr Vorrücken beträgt jährlich zehn bis zwanzig Meter.
Auf vergilbtem Schwarz-Weiß die Fotografien. Als kehre auf den Dunkelstufen mit der Erinnerung auch die Farbe zurück. Eine Gruppe junger Mädchen, fröhlich am Strand entlang wandernd in Badeanzügen, das Meer im Hintergrund. Und darüber die späteren Stimmen der Schulkinder, die das Flüchtlingskind verspotten:
Maikäfer flieg!
Dein Vater ist im Krieg,
deine Mutter ist in Pommerland,
Pommerland ist abgebrannt,
Maikäfer flieg!
Das Kind tut so, als ginge es dies nichts an. Fragt sich, was hat das mit mir zu tun? Dieses Kinderlied – so lernt es später – aus dem Dreißigjährigen Krieg von der Katastrophe des 17. Jahrhunderts, den Verwüstungen des Landes durch Söldnerheere und kaiserliche Truppen. Die Besetzung durch die Schweden. Pommerland war nicht zum ersten Mal abgebrannt.
Das Meer erfindet nichts. Die Wanderdünen bleiben ungerührt von der inneren Stimme: du bist nicht wirklich du selbst, bevor du nicht deine Erinnerungen in Leben umsetzt. Du musst dich bewusst erinnern. Und sich zu erinnern bedeutet, zunächst mit der Anfangszeit an diesem einen festgelegten Ort sich zu verbinden.
Die Geografie des Zellgedächtnisses auf diese Weise aufzunehmen: das Überlieferte im Vorhandenen zu rekonstruieren, zu deuten und sich und der Zeit anzuverwandeln. Denn anders hieße es: wenn du nicht weißt, woher du kommst, folgst du dem Wissen des Windes.
©Rosemarie Zens, in: The Sea Remembers, Kehrer Verlag, Heidelberg 2014