Die Kamera. Das erweiterte Auge
As the Eye Wanders
Fotografien wie Gedichte und Prosa sind Zeugnisse von Zeit und Ort, Geschichte und Kultur. Durch ihre Bildsprachen entsteht ein eigener Kosmos parallel zur Wirklichkeit. Einzeln und in der Abfolge fügen sie sich zu einem in sich Stimmigen, das Wahrnehmen und Erkennen anspricht und vertieft. Wir fragen, was bedeuten sie, was ist an ihnen interessant, was bewegen sie.
In der Sprache der dichterischen Poesie und in der mit der Kamera als erweitertem „Auge“ entstandenen Aufnahmen suchen wir Abbilder und Symbole zu schaffen von der Welt als Möglichkeit der Bestätigung des Lebens selbst. Einer Welt, so wie sie uns vorkommt, uns begegnet und so wie wir sie gerne hätten. In der Fotografie von den Satellitenbildern so weit entfernt und den Selfies so nah: das Atmosphärische, Situative und Zeichenhafte.
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Viele Fotografen machen sich mit mehr oder weniger Ressentiments Gedanken über das künstlerische Bild und seine Zukunft. Einige experimentieren mit dessen Umgangsweise, wie Louise Lawler, Lights off, After Hours, In the Dark (2021). Sie fotografiert Kunstwerke in ihrer jeweiligen Umgebung in Privaträumen und Museen, zeigt, in welchem Kontext sie inszeniert werden und erhebt dies zu einer eigenen Kunstform der Appropriation Art. Andere probieren neuere Techniken aus, wie Wim Wenders mit Sofort Bilder, 403 Polaroids und 36 Geschichten dazu (2021), Anton Corbijn Instanton, Phone Photos (2023) oder Stephen Shore mit seinen Fotografien mithilfe von Drohnen, Topographies, Aerial Surveys of the American Landscape (2023).
Ich bin mit Rolleiflex und Voigtländer Kameras aufgewachsen, die mein Vater benutzte. Die entwickelten Abzüge wurden in Familienalben aufbewahrt und auf der Flucht 1944 als eine der wichtigen wenigen Dinge mitgenommen. Das Rätselhafte, Fremdartige, das das Betrachten der durch Verlust mit Bedeutung ‚aufgeladenen‘ Bilder auslöste, beflügelte meine Neugier und mein Interesse für Erinnerung, Traum und Unbewusstes, für Geschichten und Geschichte. Es war und ist, als würde die Fotografie, technisch und ästhetisch ausgewiesen durch Distanz und Tiefenschärfe, mir Zwischenräume eröffnen, in denen ich mich naturgemäß bewege.
Beim Fotografieren selbst ist für mich der Vorgangs des Sehens wichtig, wie die Bewegung der Hand beim Tagebuchführen oder Schreiben von Gedicht und Prosa. Ich denke an die Zeit, in der ich in der Jugendmannschaft bei Regatten mit im Boot saß und wir uns mit anderen Mannschaften gemessen haben bei Wind und Wellen mit dem Setzen der Segel und dem Gewicht des eigenen Körpers. Im Laufe der Zeit wurde uns klar, dass es immer mehr um die bessere Ausstattung ging. Wir nannten es Materialschlacht. Und wer es sich nicht leisten konnte oder wollte, verlor das Interesse und wandte sich anderen Dingen zu. Die Regeln aber waren noch annähernd transparent. Wohin die künstlerische Fotografie sich entwickeln wird, ist völlig offen, verwischen sich doch zunehmend in allen möglichen Abstufungen die Grenzen zwischen Fakt, Filter und KI.
In: Rosemarie Zens, Was wiegen die Wolken, As the Eye Wanders, Berlin 2024