Die Quintessenz der eigenen Poetik
Was die Quintessenz der eigenen Poetik betrifft stellen wir fest, dass Gedichte, die wir lesen und schreiben zeitgebunden und zeitlos offen sind für jeden, der sich auf diese außerhalb des Alltags stehende Sprachform einlässt.
Die Gleichzeitigkeit und Dauer in Wort und Bild
Etwas in Worte zu fassen, was dem Enthüllen von Unsagbarem nahekommt, ist das Bestreben der poetischen Sprache, während die Naturwissenschaften versuchen, Untersuchungsergebnisse sprachlich möglichst exakt zu benennen oder zeichenhaft sichtbar zu machen.
Wie Naturphänomene zu erklären sind, z.B. dass die Elektronen in den Atomen der Materie sich gleichzeitig wie Teilchen und Wellen verhalten, wissen wir von der Physik. Mit der poetischen Sprache messen wir Räume aus, um mit Projektionen, Verschiebungen und Verdichtungen in Worte zu fassen, was uns bewegt. Dazu verlegen wir das Simultane in ein Lineares, in die Abfolge von Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft. In der bildenden Kunst, mit ihrer Wahl der Perspektive und der Fotografie mit ihrer Wahl des Ausschnitts stellen wir eher das Flächige, das Nebeneinander von hervorgehobenen Augenblicken dar.
Im Grunde leben wir in einer Art Gleichzeitigkeit von Tag und Nacht. Einer Gleichzeitigkeit oder einer Poesie, die uns lehrt, dass wir nur unsterblich sind, solange wir leben, schreibt Inger Christensen. Wenn wir Unsterblichkeit als Synonym für Durchgängigkeit und Dauer setzen, heißt dies auf die poetischen Texte bezogen, dass sie durch erneutes Lesen immer wieder in die lebendige Gegenwart geholt werden können. In der Weise wie auch in der Biochemie sich Reaktionen vollziehen aufgrund innerer Eigenschaften der Stoffe oder in der Physik sich Ereignisse durch Einwirken äußerer Kräfte verändern.
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Die Chemie der individuellen Anziehungskräfte
Autoren bevorzugen entsprechend ihres Temperaments und Wissens, ihrer Weisheit, Haltung und momentaner Gestimmtheit unterschiedliche Gedichtformen. Mehr oder weniger wird eine geheime Autobiografie erzählt. Wie sie das tun, macht das Geheimnis des eigenen Tons aus, den unser Ohr im Vergleich zu anderen heraushören kann.
Diesem Gefüge kommen im Gedicht die freien rhythmischen Verse wie auch die Zeilenbrüche entgegen. Letztere erwirken eine Drehung, einen Wechsel von Subjekt zum Objekt und umgekehrt. Dynamisch vorangebracht durch Orts- und Zeitbestimmungen mit ihren Verhältniswörtern. Auf diese Weise eröffnen Bewegung neben Klang und Rhythmus Spielräume, die wie ein selbstorganisatorischer Kreislauf in Gang hält, was organisch zusammenhängt: ein Lösen und Binden, Zerstörung und Aufbau, Analyse und Synthese. Wie ein aufhellendes Gewebe und schützendes Band legt sich die poetische Struktur darüber. Durchsichtig und verschleiernd spiegeln sich in ihr die Gemütsbewegungen und Gedankenverbindungen, um Brüche aufzuheben und Brücken zu bauen zwischen dem denkbaren Paradies und seiner gefühlten Unwirklichkeit.
Die Möglichkeitsräume
Der Poesie geht es um Möglichkeitsräume: um die romantische Vorstellung von Identität zwischen Poesie und Leben, um die politische Vision einer besseren Welt und um den alles Subjektive transformierenden und erlösenden Traum einer schmerzfreien Leichtigkeit. Die Annahme, dass unsere dynamische und funktionale Natur dasselbe sei nur unter zwei verschiedenen Aspekten fehlt die Dimension des Prozessualen, des Dialogischen und die Betrachtung der inneren Beschaffenheit der Natur als einem Numinosen. Stets geht das Leben den Gedichten voraus, in deren abgeleiteter und nachtragender Form sie lebendig bleiben. Es gibt nichts Beglückenderes beim Lesen und Schreiben von Gedichten als ein Wiedererkennungserlebnis und Neuschöpfen von Gewissheit und Verwandlung.
(2020)