Gegen das Verschwinden von Körper und Sprache
Can I sing for you?
Es gibt sie noch die Troubadoure und Straßensänger, Bewahrer des Volksliedgutes und der Balladen, die Bänkelsänger. In Europa im Sommer 2022. Die jungen Amateure, Medizinstudenten aus Portugal, die Coimbra dos Amores Tuna de Medicina da Universidade de Coimbra mit ihren schwarzen Capes
um die Schultern. Sie tanzen, springen und schwingen ihre Fakultätsflagge in die Lüfte, um sie geschickt im Drehen um die eigene Achse aufzufangen. Eine Gruppe von sechzehn Sängern mit Gitarre, Bass und Querflöten. Alle im Rhythmus mit ihren Trommeln und Schlagzeugen. Vor der alten Post in der Münchner Innenstadt, umrahmt von einem der schönsten in Blauweiß getupften Wolkenhimmeln. Nach Monaten der Furcht vor Ansteckung durch die Pandemie im öffentlichen Raum.
Einer der Sänger legt ein Cape um die Schultern einer langsam vorbeigehenden Passantin, führt sie in die Mitte des Kreises, bedeutet ihr, Teil des Spiels zu sein: Can I sing for you? Im Wechsel mit dem Chor singt er mit seiner jugendlich hellen schönen Stimme das portugiesische Lied Sonhar, ‚dreaming‘. Es geht um Liebe und Schmerz, um Abschied und Erinnerung. I wish to dream and live / High and far away / Where there is no pain! From dreaming to make my being / To forget this immense desert …
Als gäbe es nicht gleichzeitig die schreckliche Wüste an Zerstörungen in neu aufgeflammten Kriegen.
→ weiterlesen
Ich war ein Kriegskind, geboren am Ende des Zweiten Weltkriegs. Die Erinnerungen an die unmittelbare Nachkriegszeit waren geprägt von Abenteuerspielplätzen unter herumliegenden Splittern und Schutt von Trümmern und verfallenem Gemäuer. Wir Kinder nahmen es als eine Normalität hin, wir kannten es nicht anders. Wir waren Flüchtlinge und arm. Aus Knöpfen, Pappe und Stoffresten bastelte die Mutter Geburtstagsgeschenke. Die Gräuel der Jahre zuvor wurden noch nicht zur Sprache gebracht. Wiederaufbau und Verdrängung. Und weiter? Nichts weiter. Es war eine schwere Zeit. Wir haben nach vorne geschaut, sagt die Mutter.
Der Song The War Child, der mich immer wieder bewegt, wurde 1995 von der Band The Cranberries auf einem Fundraising Concert for The Children of Bosnia gespielt: Who will save the war child baby / Who controls the keys / At times of war. We’re all the losers … Victim of political pride / Plant the seed, territorial greed / Mind, the war child.
Flüchtlingskinder aus der Ukraine am Berliner Hauptbahnhof, die Bilder in den Nachrichtensendungen und Tageszeitungen. Ich lese die Berichte der Betroffenen und höre Musiker mit ihrer Band spielen für die Kinder von Kiew und anderen Städten in den U-Bahn-Schächten, in denen sie Schutz suchen vor Bomben und Raketen.
Mehr als ein Jahr später werden wir erneut zu Zeugen von diesmal sofort medial vor- und aufbereiteten Bildern, von sich viral verbreitenden Gewaltexzessen in Nahost. Terror in Echtzeit. Unsere Vorstellungswelt lässt sich leicht auf diese Weise infizieren und uns unmittelbar nahezu zu Mittätern werden. Getrieben von Bildtechniken, die die Wirklichkeit selbst und unser inneres Bild von der Welt verändern.
Die Kriegszeit hat keine Zeit. Zeit und Raum zerfließen, wenn alles gleichzeitig passiert. Was macht das dann mit uns? Wenn es wieder heißt, wir leben in dieser Wüste voller menschlicher Abgründe, Hass und Zerstörung. Zur Zukunft verdammt?
Das portugiesische Klage- und Liebeslied Sonhar, wir haben es nicht vergessen.
In: Rosemarie Zens, Was wiegen die Wolken, Can I sing for you, Berlin 2024