Nebelbänke und Mauerreste. Herkunft und Bilderfindung          PDF ↓

 

Anlass für die Reisen an meinen Geburtsort Bad Polzin/Połczyn Zdrój im heutigen Polen waren die Aufzeichnungen meiner Mutter von 1989 kurz nach dem Berliner Mauerfall über ihre Flucht mit mir im März 1945. Nach einigen Fahrten dorthin und zurück werden die Grenzen auf verscheidene Weise deutlich. Die fremde Sprache und die politische Geschichte bewirkten Anspannung und Anstrengung, die mit einem gewissen Abstand stimmig erscheinen: wir bleiben uns fremd, wir rücken einander näher.

 

Was bedeuten Herkunftsorte?

Diese Frage bewegte mich auf der Suche nach Gedächtnisspuren. Wie sehen die Bilder aus, die aus sehr frühen Prägungen herrühren, aus Erinnerungen, die dem tiefen Vergessen entspringen? Warum meide ich bestimmte Plätze oder sehe über sie hinweg, während ich bei anderen stehen bleibe und diese festhalten möchte? Den Schnee, die Bäume und Wiesen, den Horizont, die verfallenen und zerstörten Häuser. Die Farben, den Geruch von modrigem Holz im Moor. Die Stille und die Geräusche des Hintergrunds. Die Kälte und die Zugluft vor allem, das Pfeifen des Windes drängen sich in den Vordergrund, schieben sich vor etwas Unbegreifliches, suchen die vom Kind als Leerstelle erfahrene, durch Schweigen belegte Trauer der Mutter zu überlagern. Könnten Bilder dieser eine Stimme geben?

 

Gitter und Spiegelungen

Mit der Kamera hielt ich fest, was meine Aufmerksamkeit erregte. In der Morgen- und Abenddämmerung die Nebelstreifen, die sich erhoben und wieder senkten. Am helllichten Tag die Weite der Wiesen, die Wege ins Unbekannte. Die Anmutung von Freiheit, Stillstand und Verlorenheit.
Bei genauerem Hinsehen erkannte ich, was ich zunächst übersehen hatte: wie Gewaltsames aufbricht, wie leicht die Bilder ins Bedrohliche kippen. Plötzlich gab es die kräftigen Farben der Nacht, Schattenumrisse, die leeren Fensterhöhlen, Herumliegendes, Verfallenes, Dickicht und Unterholz.
Die Wiederholung der Elemente in der Serie soll das Unheimliche bannen und zugleich die Vorlieben bekräftigen, um die fast existentiellen Eigenschaften von Landschaften zu erfassen, die zu unserem visuellen Bestand gehören. Schien hier in der Aktivität des inneren Auges der Ursprungsort der Bilder selbst zu liegen?

Vielleicht gibt es diese vorsprachlichen Schichten des Vergessenen, die durch unsere anfänglich mittelbare Empfänglichkeit in den Blick geraten und uns tiefer prägen als wir ahnen: Bilder, die Orte mit Landschaften, menschlichen Spuren und Figuren zeigen, in einer Weise, die dem Eindrücklichen und Unergründlichen mit „Respekt” Raum lässt. So können sie in der „Rückschau” wieder lebendig gleichsam zu Bildern werden, die sich selbst enthalten und die in dieser Verdoppelung unser Gedächtnis formen.

 

Die vorläufige Ordnung der Dinge

Die Motive sind in lockerer Abfolge gesetzt. Entrückte Landschaftsbilder, die sich an einem konkreten Ort reiben. Als Erinnerungsbilder verschränkt wie Traum und Wirklichkeit enthalten sie Geschichten und sind zugleich Spiegelungen der Sehnsucht. In diesem Sinne fügen sie sich ein zwischen den Bildern aus dem Familienarchiv und den Bildern der inneren Landschaften, die Zustände leichter Unschärfe und verschobener Perspektiven hervorheben: das Fragmentarische und Ausschnitthafte von Erinnerungen und Bilderfindungen.

Verschiedene Grade der Entfremdung und der Abstraktion bewirken unterschiedliche Weisen der Wahrnehmung. Nicht alles ist konstruiert oder kontingent. Ein gewissermaßen fluider Wahrheitskern entzieht sich uns jedoch, wenn wir ihn auf einen Punkt bringen wollen. Dann verwandelt er sich wie das Meer, das nichts erfindet, das aber verschiedene Formen annimmt. So wie unser Bewusstsein und Gedächtnis danach streben, sich ständig zu vergewissern durch Erinnerungen sich neu zu orientieren, um vorläufig eine Ordnung der Dinge und Bilder zu schaffen.

 

In: Rosemarie Zens, The Sea Remembers, Kehrer Verlag, Heidelberg 2014