Bilder einer unsichtbaren Stadt
Rosemarie Zens hat es sich wahrlich nicht leicht gemacht, als sie sich vornahm, bei ihren
Spaziergängen durch Seoul den Photoapparat mitzunehmen. Seoul ist unter den geschundenen Städten dieser Welt – auch in Asien herrscht an ihnen kein Mangel – eine der am schlimmsten getroffenen. Dreimal ging die Feuerwalze des Korea-Krieges über die Stadt hinweg. Bis zum Ausbruch des Krieges war sie eine hölzerne Stadt gewesen, ihre stattlichen Häuser glichen wohlgefügten Galeeren, die geschwungenen Dächer breiteten ihre Riesenflügel aus, als wollten sie mit den Gebäuden unter ihnen davonfliegen und sie tatsächlich in köstlich knarrende Luftschiffe verwandeln. Seoul liegt zwischen Hügeln an einem breiten Fluß, da drängten sich die kleinen und großen, mit schwarzen Majolica – Ziegeln gedeckten Dächer vielgestaltig-organisch zusammen, eine dichte Herde und doch zugleich jedes eine Insula, die ein verborgenes Leben beschirmte. Auf alten Rollbildern mit beweglichem Pinsel angedeutet kann man den Zauber solcher Stadtansichten noch besser erahnen, denn die in virtuoser Verkürzung hingeworfene Tuschzeichnung beschwört auch die weichen Schatten, die in dem Zimmer lagen, in dem der Zeichner mit seinen rituellen Gerätschaften – der Pinselvase, der Teekanne, der Reibefläche für die Tusche, dem winzigen Gefäß für die Wassertropfen zum Anrühren der Tusche – auf dem Boden gesessen hatte, in Meditation über das Reispapier gebeugt. Feuerstürme haben das alte Seoul in Asche verwandelt. Es gibt nichts Altes mehr in dieser Stadt – nein, genauer: es gibt nichts, was älter wäre als zwanzig Jahre.
Die Kaiserpaläste sind das allerneueste, Rekonstruktionen in gediegener Handarbeit, die seltsam fundamentlos, nackt, frostig auf weiten Rasenflächen stehen. Und um sie herum ragen Hochhäuser, so provisorisch aufeinandergetürmt wie Paletten mit Aluminiumbüchsen in einem großen Warenlager. Hier gibt es nichts Pittoreskes, nichts Patiniertes, nichts, was eine Geschichte hätte, nichts, dessen Form etwas von der Unverwechselbarkeit Koreas erzählte. Dies ist totes Material, die Koreaner haben die leeren Flächen, die der Krieg ihnen hinterlassen hat wie eine ausgewischte Tafel, dazu genutzt, eine von der untergegangenen radikal unterschiedenen Welt zu errichten, Häuser ohne Eigenschaften haben sie aus Fertigteilen zusammengesteckt, eine Architektur der Unanschaulichkeit, die aber von oben bis unten mit Bildern bedeckt ist. Eine Hochhauswand ist hier vor allem Bildschirm für unbewegte und bewegte Bilder. Dort schwimmt ein Goldfisch, weit größer als ein Wal, zwischen appetitlich hellgrünen Wasserpflanzen; auf einer anderen Wand stäubt der Pulverschnee eines Skirennens. Politikergesichter wischen vorbei, lächelnd über dunklen Anzügen, zu ihren Füßen leuchtet ein Stück roter Teppich auf. Fetzen ohne Zusammenhang, als liege das Hochhaus in unruhigem Schlaf und finde nicht die Kraft zu einem zusammenhängenden Traum. Immer waren Bilder auch durch die Substanz bestimmt, aus der sie hergestellt wurden, sie profitierten von der Materialität der Holztafel, des Papiers, der Leinwand, der Tuschen und Tinten, der Bleistifte, Kreiden und Ölfarben. Erst diese Bilder auf Seouls Hochhäusern haben sich restlos von dem Stoff der Bildträger emanzipiert, sie sind von reinster Körperlosigkeit, Luftspieglungen, an deren Hervorbringung eine Fata Morgana nicht mehr den bescheidensten Anteil hat. Das Regenbogenschillern auf einer öligen Pfütze besitzt mehr Körper als diese weithin strahlenden Bilder. Sie triumphieren über die minderwertigen Betonschachteln, auf denen sie herumtanzen, ihr Nichts ist Zeugnis einer neuen Stufe der Zivilisation, die Körper und Geist nur noch als Zahlenwerte begreifen kann. Mit Lichtgeschwindigkeit können diese Bilder um die Welt sausen, während die Hochhäuser wie leere Konservendosen zurückbleiben müssen, schon während sie sich noch in Gebrauch befinden als Müll erkennbar.
Man spürt aus den Photographien von Rosemarie Zens, daß sie die Stadt betrachtet hat wie ein Fassadenkletterer eine glatte Mauer untersucht: nach kleinsten Unebenheiten und Vorsprüngen, die Halt gewähren könnten. Überall aber rutscht das Auge ab, die aus der Geschichtskatastrophe destillierte Wesenlosigkeit, die vielleicht auch als Schutz vor weiteren Katastrophen empfunden wird, ist lückenlos. Beinahe, aber dann gibt es eben doch eine Spur menschlicher Existenz, die die scheinbar unüberwindliche Mauer zwischen den Geschichtsepochen, zwischen Vor- und Nachkriegszeit überwunden hat. In der kältesten nichtssagenden Umgebung findet man sie in dieser alten, nagelneuen Stadt: die großen, ungefügen Tontöpfen mit der grünen Glasur, so hat auch Rosemarie Zens sie entdeckt. Die Koreaner haben so vieles aufgegeben, das zu ihrem traditionellen Leben gehörte, aber an einem halten sie unverbrüchlich fest, hier hat die sonst geradezu erstickende Technisierung des Landes keine Chance: am Kern der menschlichen Existenz, am Essen, an der so überaus eigentümlichen, mit keiner anderen Küche vergleichbaren koreanischen Küche, in der diese grünglasierten Bottiche eine Hauptrolle spielen. In ihnen reift das Kimchi, jenes mit Knoblauch und Chili gewürzte Sauerkraut, das den koreanischen Gaumen von frühester Jugend an derart imprägniert, dass ihm nie mehr ein anderes als ein koreanisches Gericht munden wird. Auf die Reize, die nur den Geschmacksnerven zugänglich sind, hat die koreanische Tradition sich zurückgezogen. In der unsinnlichen Ödnis der Betonfestungen gibt es diese grünglasierten Geschmacksbomben, deren Inhalt die Wahrnehmung anzuzünden vermag.
So denn bewahren auch die gleichsam vereisten, nur selten von Menschen bevölkerten Bilder der Rosemarie Zens den verkapselten Keim, der die weiterlebende koreanische Quintessenz enthält.
© Martin Mosebach, in: Rosemarie Zens, Hidden Patterns, Berlin 2011