Gedichte über die andere Nacht
Das Subjekt der Gedichte ist Erinnerung
Nach Flucht und Rückkehr: unmöglich, unmöglich, dachte die Schöne, die Poesie. In gewagten Ellipsen vernünftiger Glückseligkeit. Im Wechsel von Schwarzweiß zur Farbe und wieder zurück. Hier eine ungewöhnliche Lichtsetzung von oben, dort ein rigoros gesetzter musikalischer Zuschnitt von Kühle. Diktiert aus innerer Glut, Hingabe und gleichzeitigem Berührungsverbot. Keine bloße Spiegelung in den Wörtern. In ihnen vielmehr ein Seelenzustand der Affirmation als körperlicher Erinnerung von sich selbst. Und von uns als Spiegel. Denn neben dem Rest von Glauben an die Wahrheit von Erinnerungsbildern zehrt der Formwille in diesem Universum von nichts anderem als von menschlicher Zuwendung.
Durch ungewohnte Wort- und Bildzusammenhänge werden in den Lebenszyklus–Gedichten neue Sichtweisen erprobt in Wendungen von einem erzählerischen Duktus zu Wortreihungen über den Fortlauf von Zeilenbrüchen hinweg. Im Widerstand gegen Übergriffe und Zumutungen wird durch eine Art rhythmischer Beschwörung eine Eigenständigkeit betont, die sich um keinen Trend kümmert.
Mit all den Widersprüchen zwischen Weltzugewandtheit und Autonomie zeigt sich hier die Poesie als Erbin desillusionierter Romantik. Gleichwohl sucht sie ihren Ort in ständiger Bewegung, im Fortgehen, im Sich-Fortschreiben zu finden. Einen Ort, der die Frage offen lässt, was die Gegenwart mit Vergangenheit und Zukunft zu tun hat, so dass die Selbstvergessenheit aus dem Geist der Endlichkeit und zugleich deren Überschreitung wahrgenommen werden kann.
Die Gedichte sind wie Musikstücke akustische Ereignisse
Sie haben Anfang, Mittelteil und Schluss, einen Ablauf, eine Zeitgebundenheit. Und während Buchstaben an Buchstaben auf dem Papier einander folgen, um den Laut zu notieren, bleiben Klang und Rhythmus nur erahnbar. Von der eigenen inneren Stimme des Lesers. Oder von der Stimme des Sprechers erfahrbar gemacht, die sich Zugriffen auf Deutungszusammenhänge entzieht, auf die es dennoch ankommt:
Die Sehnsucht der Sprache wieder Klang zu werden.
Die Sehnsucht der Musik verstehbar zu werden.
Für den Gitarristen Jürgen Heckel war der Sprachklang Anlass für seine Kompositionen. So als habe der Musiker beim Hören der Gedichte innerlich „gesungen“ und in seiner Musiksprache geantwortet. Und kein Verschmelzen von Klang und Text, keine bloße Überlagerung von Lyrik und Musik findet statt. Vielmehr wird hier den Gedichten eine Parallelwelt dialogisch zugespielt.
Vom Experimentierfeld der Minimal Music und des Jazz herkommend – von dessen Zitatcharakter, Improvisationsmustern und -figuren – hat Jürgen Heckel mit seinen spröden Gitarrentönen und langen melodisch-akkordischen Linien den Gedichten in rhythmischer Genauigkeit zu entsprechen, zu widersprechen und zu antworten gesucht. Zum Teil hat er sie als Melodie wahrgenommen, die Töne analysiert, auf die Gitarre übertragen, dann bei einigen Gedichten diese zur Stimme, die wir im Normalfall eben nicht bewusst als Melodie hören, parallel geschaltet. So als verwandelten sich seine Klänge selbst zu liedhaften Bedeutungsträgern und erzählten eine Geschichte.
Diese inszenierte Version einer Leseperformance ist entstanden mit eigens komponierter Live-Musik. Die Klänge basieren nur auf den Möglichkeiten akustischer und elektrischer Gitarren ohne elektronische Verfremdung. Die Einspielung ist eine Weiterführung der experimentellen Arbeit mit Sprache und Musik. Um auf Wesentliches sich zu konzentrieren: auf die Stimme zum Beispiel, die sich im Zusammenspiel von gelesenen Gedichten mit musikalischen Hörstücken und reiner Musik an die Zuhörer und Leser wendet, an deren Eindrücke und Gedanken. An ihre Welt der zukünftigen Erinnerungen.
© Rosemarie Zens, Die Schöne Das Fortgehen Der Ort. Edition WortOrt. Berlin 2006